ORAL HISTORY-PROJEKT - DERSIM 1937-38

In den Jahren 1937-38 wurden in Dersim Zehntausende von Menschen ausgelöscht, ohne einen Unterschied zwischen alt und jung, zwischen Männern, Frauen und Kindern zu machen. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Ein beträchtlicher Teil der Überlebenden wurde in andere Regio­nen verbannt und in Dörfer und Kleinstädte in Westanatolien umgesiedelt. Die Kinder wurden entweder zur Adoption in türkische Familien gegeben oder auf Internatsschulen geschickt und - entfremdet von der Sprache und Kultur Dersims - als Türken erzogen. Leider ist heute nicht viel über diese weitreichende Vernichtungs- und Assimilationsaktion in der Geschichte der Türkischen Republik bekannt, welche zum Ziel hatte, die Sprache, Kultur und Lebensart von Dersim zu vernichten.
Die höchstwahrscheinlich existenten staatlichen Dokumente zu diesem Thema sind unter Ver­schluss und stehen der Forschung nicht zur Verfügung. Dass sie in absehbarer Zeit freigegeben werden, ist kaum zu erwarten.
Aber als Quelle können nicht nur die Dokumente dienen, welche diejenigen hinterließen, die eine solche große Operation organisiert haben, die die Vernichtung einer Gesellschaft, ihrer Sprache, ihrer Kul­tur und ihres sozialen Lebens zum Ziel hatte. Ebenso wichtig sind als Quel­le die uns überlieferten Berichte derjenigen, die dieses Leid selbst erlitten und irgendwie überleben konnten. Aber auch in diesem Bereich lässt die Quellenlage zu wünschen übrig. Die Menschen, die das Massaker erlebt und überlebt haben, haben ihre Erinnerungen zum Teil wegen ihres Bildungsniveaus, zum Teil auch aufgrund des sozialen und politischen Drucks nicht schriftlich festgehalten und uns so nicht als schriftliche Quelle überliefert. Bis heute haben viele verdienstvolle Forscher mit ihren begrenzten Möglichkeiten die Überlebenden, insoweit sie für sie erreichbar waren, aufgesucht, mit ihnen gesprochen und versucht, das Leid, das sie erlebt haben, aufzuzeichnen. Wir haben ihrer Arbeit viel zu verdanken. Trotz all ihrer Mühen kann man aber nicht sagen, dass es heutzutage eine ausreichende Quellenbasis für ernsthafte Forschungsarbeit gibt; vielmehr führte der Mangel an Wissen und Quellen zu diesem Thema dazu, dass bisher keine fundierten Forschungsarbeiten geleistet werden konnten. Problema­tisch ist auch, dass es bisher keine Institutionen gegeben hat, die sich denjenigen Quellen und Erkenntnissen, die überhaupt gewonnen werden konnten, systematisch angenommen und sie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hätten. Aus heutiger Sicht kann gesagt werden, dass die Ereignisse in Dersim 1937-38 hinter einer Mauer des Schweigens verborgen werden und dass diese Mauer durchbrochen und die Gesellschaft der Türkei und die internationale Gemeinschaft über Dersim aufgeklärt werden muss. Es ist nicht möglich, dieses Schweigen allein durch das Sammeln von Erkenntnissen und Dokumenten zu durchbrechen. Genauso wichtig ist es, von den Möglichkeiten der modernen Technologie Gebrauch zu machen und diese Ma­terialien so zu präsentieren, dass sie der Allgemeinheit zugänglich sind.

ZIELSETZUNG UND UMFANG

Das Oral History-Projekt Dersim 1937-38 wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, das Vakuum an Wissen um die Ereignisse von 1937-38 zu füllen, um die Berichte der Überlebenden und ihrer Kinder an zukünftige Generationen weiterzugeben. Wichtigstes Ziel dieser Arbeit ist es, mit den Menschen, welche die Massaker und die Verbannung überlebt haben und die heute noch am Leben sind, Gespräche zu führen. Aber diese Arbeit sieht sich mit einem signifikanten Zeitproblem konfrontiert. Man kann sich den Luxus des Wartens nicht erlauben. Die Menschen der Generation, welche dieses Leid durchgemacht hat, sterben einer nach dem anderen. Es muss versucht werden, alle diejenigen, die noch am Leben sind, zu treffen, bevor sie von uns gehen, und ihr Wissen für die nächsten Generationen festzuhalten.

Das Oral History-Projekt beschränkt sich nicht nur auf die Gespräche mit den Augen­zeugen von 1937-38, sondern wird auch Gespräche mit der nachfolgenden Generation führen. Mit dieser Arbeit sollen auf Dutzende von Fragen Antworten gesucht werden, auf Fragen nämlich wie: Welche Erinnerungen haben die Menschen, in deren Leben die Ereignis­se von 1937-38 eine wichtige Rolle gespielt haben, an 1937-38? Was und wie wurde ihnen darüber erzählt? Was haben sie gedacht, als man ihnen davon erzählt hat? Welche Rolle haben die Ereignisse von 1937-38 in ihrem Leben gespielt? Welchen Schwierigkeiten sind sie be­gegnet, die aus ihrer Herkunft aus Dersim resultierten?

Das Oral History-Projekt Dersim 1937-38 beschränkt sich nicht nur auf die Durch­führung von Gesprächen und das Sammeln von Erkenntnissen und Quellen, sondern ist als erster Schritt zum Aufbau von Institutionen zu verstehen, welche die ge­wonnenen Erkenntnisse und gesa