Rede von Yasar Kaya (im Landtag)

Rede von Yasar Kaya (im Landtag)
Sehr geehrter Herr von Grünberg,
sehr geehrte Frau Kolb,
sehr geehrter Herr Dr. Copur,
sehr geehrter Herr Yüksel,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Dersimer,

ich begrüße Sie herzlich und danke Ihnen sehr dafür, dass Sie uns die Möglichkeit gegeben haben, die Geschichte Dersims bekannt zu machen.
Unser besonderer Dank gilt Herrn von Grünberg und Herrn Yüksel, die uns trotz einiger Diskussionen und Schwierigkeiten die heutige Veranstaltung ermöglicht haben.
Die Region Dersim liegt im Osten der Türkei, in Ostanatolien zwischen den Quellflüssen von Euphrat und Tigris, und bezieht die Städte Tunceli und teilweise Bingöl, Sivas, Elazig und Erzincan ein. Die heutige Provinz Tunceli, die kleinste und zweitärmste der 80 türkischen Provinzen, besteht aus dem ehemaligen Zentral-Dersim. Dersim ist ein buntes Mosaik von Kulturen: Allein die Sprachenvielfalt von Kirmancki/Zazaki, Kurdisch und Türkisch – und bis in die 40er-Jahre auch Armenisch – beweist die kulturelle Vielfalt.
Die Bevölkerungszahl dieser Region ist seit Gründung der Republik Türkei durch Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung kontinuierlich gesunken. Während 1980 in Dersim 154.000 Menschen lebten und heute nur noch 79.000, sich ihre Zahl also fast genau halbiert hat, ist die Bevölkerung der Türkei im gleichen Zeitraum von 40 auf 72 Millionen Einwohner gewachsen. Die Kämpfe in den letzten 30 Jahren zwischen dem türkischen Militär und der PKK fügten Dersim zudem einen noch nicht abzuschätzenden Schaden zu. Viele Dörfer sind zerstört, Wälder wurden in Brand gesetzt, Menschen inhaftiert, gefoltert und getötet. Durch das gigantische Staudammprojekt GAP werden zudem weite Teile unseres Landes überflutet; viele unserer heiligen Stätte wie auch alte armenische Kulturdenkmäler versinken.

Viele Dersimer mussten aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen, und so sind wir überall auf der Welt, aber nicht aber da, wo unsere Wurzeln sind.
An die 200.000 Dersimer leben in Deutschland, alleine in Nordrhein-Westfalen Zehntausende, und viele von ihnen sind inzwischen gut integrierte deutsche Staatsbürger. Wir sind die Kinder und Kindeskinder der vor über 50 Jahren hier in Deutschland angeworbenen, zutiefst traumatisierten und im Bezug auf ihre Identität verunsicherten Hilfsarbeiter.
Über Jahrzehnte hinweg haben unsere Eltern und Großeltern schweigen müssen; geredet wurde nur hinter vorgehaltener Hand. Die Angst ging mit ihnen in die Welt, und so wurde auch hier in Deutschland lange nicht gesprochen. Dafür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens hatten die Auswanderer Angst, dass ihre Kinder sie und sich vielleicht würden rächen wollen, und zweitens mussten sie damit rechnen, in der Türkei als Staatsfeind beschuldigt zu werden, wenn sie ihre Erlebnisse erzählen würden. Verwandtenbesuche, Heimaturlaube – all das war in Gefahr, bis hin zur Inhaftierung wegen „Beleidigung des Türkentums“.
Sie hatten Eltern und Verwandte verloren, wurden als Kinder Zeuge von Massenexekutionen, bei denen sie teilweise unter Leichen begraben wurden und nur so überleben konnten, oder sind mit den unfassbarsten, grauenhaftesten Erzählungen über diese Massaker aufgewachsen.

1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer dieser Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und ihre nahen Verwandten kennenzulernen. Viele von uns sind ohne ihre Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahe Verwandte aufwachsen zu müssen. Diese Gefühle lassen sich in ihrer Kausalität letztendlich nur von Gemeinschaften nachvollziehen, die einem ähnlichen Völkermord ausgesetzt waren.
Trotz alledem war das Volk von Dersim niemals gesonnen, Blutrache zu üben. Dies würde der Nächstenliebe widersprechen, welche die Traditionen und die Kultur unseres Volkes lehren.
In Deutschland lebt eine große Anzahl der anatolischen Minderheiten, die allesamt als „Türken“ eingeordnet werden: Dersimer, Armenier, Pontos-Griechen, Assyrer, Kurden und andere mehr haben zusammen mit Türken, Italienern, Jugoslawen und anderen „Gastarbeitern“ die Entwicklung in Deutschland vorangebracht, haben mit zu seinem Wohlstand beigetragen, haben als Hilfsarbeiter bei Ford, Opel oder anderen Fabriken gearbeitet.

Darf ich Ihnen zwei Beispiele aus meinem Bekanntenkreis geben?

Yusuf Güzel, ein Zeitzeuge, ist 1932 zur Welt gekommen, 1966 kam er nach Deutschland. Er arbeitete bis zu seiner Rente 1992 bei Ford in Köln und ist am 22 Juni 2012 gestorben. Sein Sohn Haydar arbeitet ebenfalls seit 1981 bei Ford und ist ein Gewerkschaftler. Seine Enkelkinder Onur und Baris gehen beide zur Universität. Sie alle sind deutsche Staatsbürger.
Mein Onkel Hasan Kaya, geboren 1932 in Dersim, ist auch ein Zeitzeuge des Völkermords in Dersim. Als mein Großvater erfuhr, dass die Nachbardörfer überfallen und die Menschen umgebracht worden waren, schickte er seine drei Söhne in den Wald, damit sie nicht alle getötet würden. Die Tragödie seiner Familie spielte sich vor seinen Augen ab. Er beobachtete aus seinem Versteck heraus, wie Soldaten die Menschen unter Flüchen und Schreien aus ihren Häusern trieben, sie zum Bach „Derê Meyitu“, dem „Leichenbach“, brachten und sie dort töteten. Dabei verlor er seine Mutter, seine Großmutter, seinen Vater, zwei Schwestern und die Tochter seiner Schwester.
Er kam 1966 nach Deutschland und arbeitete bei Opel bis zur Rente. Alle seine Kinder und Kindeskinder leben in Wiesbaden; alle zehn Enkel sind gute Schüler hier in Deutschland.

Zusammen mit unserem Dachverband, der „Föderation der Dersim Gemeinden in Europa e.V.”, kurz „FDG“, haben wir endlich das Schweigen gebrochen und bei der Aufarbeitung unserer Geschichte einen sehr konkreten, unschätzbaren Dienst geleistet: Mit fast 350 Zeitzeugeninterviews und fast 800 Stunden Rohmaterial haben wir das Schweigen beendet und das politische Bewusstsein über den Völkermord geschärft, so dass unter anderem eine Entschuldigung folgte. Immerhin: Ministerpräsident Erdogan hat sich am 23 November 2011 offiziell entschuldigt. Für die Aufarbeitung war diese Entschuldigung ein sehr wichtiger Schritt, dem bis jetzt aber leider keine Taten gefolgt sind. Auch stimmen die offiziellen Zahlen von zum Beispiel 13.806 getöteten Menschen nicht; vermutlich waren es um die 50.000. Und die Repressionen in der Region Dersim endeten auch in den letzten vierzig Jahren nicht.

Der Startschuss zu dem Dersim 1937-38 Oral History Projekt

Der Startschuss zum Dersim 1937-38 Oral History Projekt fiel im September 2008 in Dortmund. Mitglieder der FDG, Dersimer Akademiker und Politiker beschlossen, das „1937-38 Zeitzeugenprojekt“ ins Leben zu rufen, um zumindest die Aussagen der letzten Überlebenden zu sichern. Das „Dersim 1937-38 Oral History Projekt Komitee“ wurde gebildet, das sich aus dem Vorsitzenden der FDG, Akademikern aus dem Gebiet der Sozialwissenschaften, Pressemitarbeitern und IT-Technikern zusammensetzt. Das Komitee übernahm die Planung, die Organisation und die Durchführung des Projektes.

Vorbereitung für die Interviews

Um die Projektmitarbeiter zu qualifizieren, wurden drei Bildungsseminare über die Oral History, die Interviewführung, die Interview- und Datensicherung sowie Archivierungstechniken mit Unterstützung von Professoren der Clark Universität in Michigan, bedeutenden Universitäten in der Türkei und der „Stiftung Denkmal“ in Berlin abgehalten. Unter akademischer Anleitung wurden analog zu einem Leitfaden der „Shoah-Foundation“ Fragebögen erarbeitet und ein Handbuch über die Geschichte und Kultur Dersims für die Interviewer fertiggestellt.
Zur Aufzeichnung wurden verschiedene Materialen besorgt wie Kameras, Tonbandgeräte und Fotoapparate.
Die nach dem Shoah-Stiftungsmuster erstellten Fragebögen zur Geschichte Dersims der Jahre 1937-38 wurden samt Einverständnisserklärung bereitgestellt. In Dersim wurde ein Büro als Anlaufstelle für die Zeitzeugen und als Informationspunkt für alle Interessierten eröffnet.
Kampagnen, TV-Programme und über 40 Informationsabende fanden inzwischen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und in der Türkei statt, um die Dersimer auf die Dringlichkeit des Projektes aufmerksam zu machen und soweit wie möglich inhaltliche und finanzielle Unterstützung von ihnen zu bekommen. Das Projekt wurde und wird komplett von Spenden der Dersimer getragen.

Einige Informationen zum Projekt.
Als wir 2009 angefingen, hatten wir uns zum Ziel gesetzt, 150 Zeitzeugen zu erreichen. Nach 73 Jahren suchten wir nach ihnen. Da das Durchschnittsalter in der Türkei bei Männern bei 71 und bei Frauen bei 76 Jahren liegt, hatten wir große Sorgen, den Wettlauf mit der Zeit zu verlieren. Aber schon nach kurzer Zeit bekamen wir zahlreiche Adressen von Zeitzeugen von überall her, und immer neue Hinweise und Daten trafen bei uns ein. Längst hatten wir die Zahl von 150 erreicht, aber wir konnten nicht aufhören, immer neue Interviews wurden und werden gemacht, und immer wieder bekommen wir wieder neue Namen. Bis jetzt haben wir 350 Zeitzeugen interviewt, unter ihnen auch zwei Soldaten, die damals ihren Militärdienst in Dersim geleistet haben, und einige der verschollenen Töchter Dersims. Leider haben wir nicht alle rechtzeitig erreichen können: Einige sind gestorben, während wir uns vorbereiteten.

• Der älteste Zeitzeuge wurde 1894 geboren, die meisten der Zeitzeuge waren beim Völkermord zwischen 6 und 12 Jahren alt.
63% sind Männer, 37% sind Frauen
• In 8 Ländern und über 40 Städten sind Interviews gemacht worden, davon 22 in Deutschland.
• Die Zeitzeugen gehören 43 verschiedenen Stämmen an, darunter auch 9 Ocaks (Heilige Stämme)
• Die Interviews wurden in verschiedenen Sprachen geführt: 77% in Kirmancki/ Zazaki, 5% in Türkisch, 18% in Kirdaski (Kurdisch)
• Die Durchschnittslänge der Interviews beträgt 88 Minuten.
• Während des Völkermords wurden 19% verwundet, 60% haben ihre Familienangehörigen verloren, 88% haben den Massenmord selbst
erlebt, 62% konnten sich im Wald oder in Höhlen verstecken, 36% wurden nach dem Massaker nach Westen verbannt, 2% sind unter
Leichen am Leben geblieben.
• Für die Sicherung der Dateien wurden die Interviews dreimal bei drei Personen in drei verschiedenen Ländern gespeichert.
• Das Komitee ist dabei, einen Projektbericht fertigzustellen und diesen als Buch zu veröffentlichen.

Ziel: In Deutschland die Interviews für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen und in Dersim ein Archiv- und Dokumentationszentrum für Dersim 1937-38 zu errichten.

Das anfängliche Ziel des Projekte war, so viele Zeitzeugen wie möglich ausfindig zu machen und deren Aussagen und Erinnerungen anhand moderner audio-visueller Medien im Einklang mit akademischen Standards und Richtlinien zu erfassen. Das langfristige Ziel besteht nun darin, die Informationen zu transkribieren und danach auf Türkisch, Deutsch und Englisch zu übersetzen, um die Daten dann zusammen mit anderen Informationen, Dokumenten, Fotos und Filmen in einem Archiv- und Dokumentationszentrum der Öffentlichkeit, der Forschung und anderen Institutionen zur Verarbeitung und Aufarbeitung zur Verfügung zu stellen.
Mit der Aufarbeitung des Themas hoffen wir zum einen, eine ausgewogenere Geschichtsschreibung als Alternative zur offiziellen Geschichtsschreibung zu bieten, und zum anderen, eine wahrhaftige Aufarbeitung des Traumas für die Dersimer zu ermöglichen. Im weiteren glauben wir, dass das Wissen um die tolerante und friedliebende Dersim-Kultur, die eine wirklich demokratische, gleichberechtigte und multikulturelle Gesellschaft darstellte, ein Gewinn für die deutsche Öffentlichkeit sein wird.
Wir benötigen tatkräftige Unterstützung, um unserer Aufgabe gerecht zu werden. Die Wahrheit, die so lange verschüttet war, drängt ans Licht, und unsere letzten Überlebenden und ihre Nachfahren haben ein Recht auf ihre Geschichte.
Aber auch für einen gesellschaftlichen Frieden ist unsere Arbeit sehr wichtig. Wie oft führen Unwissen und Missverständnisse zu Spannungen, sei es in der Türkei oder auch hier in Deutschland. Wenn Schüler in deutschen Schulen keine Möglichkeit haben, sich umfassend und ausgewogen über die türkische Geschichte zu informieren, wird es immer wieder zu Streitigkeiten kommen, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind. Man stelle sich vor, es gäbe keine Literatur oder andere Aufzeichnungen zum Völkermord an den Juden in Deutschland – wie sollten deutsche Schüler die Geschichte ihres Landes begreifen, mit ihr und mit Juden in Deutschland gemeinsam in Frieden leben?
Und so bitte ich Sie: Helfen Sie uns bei unserer Arbeit, damit wir sie nachhaltig zur allgemeinen Verwendung bereitstellen können: in Museen, Schulen und Universitäten, für Historiker, Lehrer und Kulturinteressierte, für Bürger, Politiker und Menschen in der Integrationsarbeit, für die Nachfahren der Opfer und für die Nachkommen der Täter, für alle Menschen, die die Wahrheit erfahren und in Frieden zusammenleben wollen. Denn nur die Wahrheit kann uns frei machen!

Düsseldorf, 13.05.2013
Projektleiter des Dersim 1937-38 Oral History Projekts
Yaşar Kaya

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