Andankstag des Terteles 4. Mai

Nun ist die Zeit, aus dem Dunkel der Diskriminierung hervorzutreten,
um den Weg der Gerechtigkeit zwischen den Rassen zu beschreiten.
(Martin Luther King)

An die Öffentlichkeit
Schlussdeklaration der Versammlung vom 6. März 2010
zur Tertele* (dem Völkermord) in Dersim in den Jahren 1937 und 1938

  1. Mai – Gedenktag der Tertele in Dersim

Am 6. März 2010 fand in Köln eine Versammlung statt, an der zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller, Akademiker und Künstler aus der Türkei und Deutschland, sowie Vertreter von zivilgesellschaftlichen Institutionen aus Dersim teilnahmen.

Auf der Basis der geführten Diskussionen wurden unten stehende Beschlüsse verabschiedet:

Die Tertele bzw. der Genozid in Dersim von 1937 bis 1939 ist kein vereinzeltes Massaker. Vielmehr richteten sich die Massaker im Zeitraum von 1937 bis 1938, die den Höhepunkt einer über Jahrzehnte geführten politischen Diffamierungskampagne darstellten, gegen eine Gemeinschaft mit einer eigenen politischen, sozialen und kulturellen Identität; mit dem Ziel, deren Lebensart zu beseitigen, die dem osmanisch-türkischen Staat ein Dorn im Auge war.

Sowohl die Lebensart als auch die politisch-soziale und kulturelle Identität der Menschen aus Dersim standen im Widerspruch zur osmanisch-türkischen Staatstradition, weshalb sie sich systematischer Unterdrückung, Assimilation und systematischem Terror ausgesetzt sahen.

Die Tertele von 1937 bis 1938 war ein Wendepunkt, an dem die – gegen das Volk aus Dersim gerichtete – Unterdrückungs- und Assimilationspolitik des türkisch-osmanischen Staates in eine Politik der Ausrottung mündete. Aus diesem Grund erklärt die Versammlung den 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim. Die Versammlung verneigt sich vor dem Andenken der im Rahmen der Tertele ermordeten Menschen und verurteilt die Verantwortlichen des Massakers auf das Schärfste; aber auch diejenigen, die sich mitschuldig machen, indem sie darüber schweigen oder die Spuren verwischen.

Die Versammlung fordert die türkische Regierung dazu auf, den 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim zu erklären. Sie erwartet von der derzeitigen Regierung, sowie allen zukünftigen Regierungen, eine offizielle Erklärung, in der ihr Bedauern und das Gedenken der Opfer zum Ausdruck kommt.

Die Teilnehmer der Versammlung glauben, dass die Besinnung auf die eigene Geschichte und dem Gedenken der Opfer, vergleichbaren Massakern in der Türkei entgegenwirkt. Gleichfalls sind die Teilnehmer der Versammlung davon überzeugt, dass ein solches Gedenken die demokratische Entwicklung einer friedlichen Gesellschaft fördert, welche die Menschenrechte respektiert.

Hintergründe für die Wahl des 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim von 1938:

Der Beschluss zur Ausrottung des Volkes aus Dersim, mit dem ein Exempel statuiert werden sollte, wurde am 4. Mai 1937 auf einer Sitzung des türkischen Ministerrats gefasst. Noch am selben Tag wurde das Gebiet von Dersim breitflächig bombardiert, wobei Hunderte Zivilisten – Frauen, Kinder und alte Männer – getötet wurden. Zehntausende wurden im Rahmen der annähernd zweijährigen Militäroperation ermordet. Weitere Zehntausende wurden in die Verbannung geschickt; Familien wurden zerrissen, die Menschen voneinander getrennt auf andere Dörfer, Bezirke und Provinzen verteilt. Im Rahmen der Tertele wurden die Führer Dersims ohne rechtliche Grundlage hingerichtet. Noch heute suchen ihre Nachfahren die Gräber ihrer Vorväter. Tausende Kinder wurden 1938 zur Adoption freigegeben oder in Waisenheime überstellt. Noch immer finden sich in den Zeitungen Suchanzeigen, in denen die Menschen nach ihren vermissten Verwandten forschen.

1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer der Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und nahen Verwandten kennenzulernen. Viel sind ohne ihre Brüder, Onkel und Tanten aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahen Verwandten aufwachsen zu müssen. Diese Gefühle lassen sich in ihrer Kausalität letztendlich nur von Gemeinschaften nachvollziehen, die einem ähnlichen Völkermord ausgesetzt waren.

Die Teilnehmer der Versammlung vom 6. März 2010, die einen breiten Teil der Gesellschaft Dersims vertreten, haben festgestellt, dass der Beschluss des türkischen Ministerrats vom 4. Mai 2010 der Auftakt für die Phase der endgültigen Vernichtung und Vertreibung war, weshalb dieses Datum historische Tragweite hat. Der Beschluss war eindeutig: Ein Volk sollte geplant und systematisch vernichtet werden, das seine eigenen Sprachen spricht, seine eigene Religion ausübt und eine eigene Kultur besitzt.

Unsere Epoche gilt als Zeitalter der Bewältigung der eigenen Geschichte und der Abbitte für begangene Fehler. Zivilisierte Länder sehen in anderen Sprachen, Religionen und Kulturen einen Reichtum, den es zu schützen gilt. Sie stellen sich ihrer historischen Realität und entschuldigen sich bei den Opfern für das begangene Unrecht.

Deutschland, welches sich immer noch dem Völkermord Hitlers an dem jüdischen Volk stellt; Italien, das für seine koloniale Vergangenheit von 1911 bis 1947 Libyen um Verzeihung bat; Spanien, das sich seiner Vergangenheit der mittelalterlichen Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel annimmt; Japan, das immer noch seine imperiale Politik vor dem II. Weltkrieg gegenüber den anderen asiatischen Völkern aufarbeitet; Australien, welches sich bei seinen Ureinwohnern für das an den Aborigines begangene Unrecht entschuldigte; oder Kanada und Amerika, die Ihre Ureinwohner für das an ihnen begangene Unrecht respektive für ihre Assimilationspolitik um Verzeihung baten, sind nur einige dieser Länder. Ganz zu schweigen von den baltischen Staaten, Rumänien und der Schweiz, die sich ihrer direkten oder indirekten Beihilfe an der Schoah annehmen, Historikerkommissionen einrichten und Abbitte leisten.

Die Bewältigung der eigenen Geschichte hat diese Staaten und ihre Gesellschaften nicht gedemütigt; im Gegenteil, sie trug ihnen großen Respekt ein. In diesen Ländern brach infolgedessen kein Sturm los; vielmehr wurden große Fortschritte auf dem Weg der gesellschaftlichen Aussöhnung respektive große Fortschritte gegen das Vergessen der vergangenen Tragödien erzielt. Dies führte zu neuen Möglichkeiten und eröffnete neue Wege. Nur wenn die Türkei sich der eigenen Vergangenheit stellt, wird sie ihren Platz in dieser würdigen Gemeinschaft finden können. Der Weg zum Frieden und zur Demokratie führt in der Türkei über die Bewältigung des vergangenen Leids.

Die Teilnehmer der Versammlung erwarten somit für die Vorkommnisse in den Jahren 1937 und 1938 eine offizielle Entschuldigung. Dies dürfte gegenüber den Opfern des Dersimer Massakers von 1938 und dem Leid ihrer Nachfahren nicht zu viel verlangt sein. Die Teilnehmer der Versammlung erwarten, dass den hingerichteten Führern Dersims, deren Menschrechte mit Füßen getreten wurden, ihre Würde wiedergegeben wird; im festen Glauben daran, dass dies die Voraussetzung für gesellschaftlichen Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit ist.

Trotz alledem hat das Volk von Dersim niemals auf Blutrache gesonnen. Dies würde der Nächstenliebe widersprechen, welche die Traditionen und die Kultur dieses Volkes lehren.

Auch diese Zeilen sind frei von jeglichem Gefühl der Rache. Sie sind vielmehr ein Aufruf zur Brüderlichkeit und zum gesellschaftlichen Frieden. Die Versammlung fordert deshalb den türkischen Staat zur Änderung seiner Politik auf, die die eigenen Bürger als „Bedrohung“ wahrnimmt. Der türkische Staat muss sich dem begangenen Unrecht stellen, wenn gesellschaftliche Aussöhnung und Frieden erreicht werden sollen. Das zwischen 1937 und 1938 in Dersim begangene Unrecht muss aufgearbeitet werden.

Hierfür bedarf es einer Regierung, die sich den historischen Fakten annimmt. Die Menschen in der Türkei verlangen nach einer Regierung, die die Aufarbeitung der eigenen Geschichte zur Ehrensache macht. Sie haben genug von Regierungen, die das Volk belügen bzw. die nachfolgenden Generationen mit Lügen nähren. Die massenhafte Tötung von Menschen im Namen des „Antiterrorkampfes“ und die politische Unkultur der Verleumdung und Lüge passen nicht zu diesem Land.

Der 4. Mai soll deshalb der Tag sein, an dem die Menschen aus Dersim für die Toten der Tertele beten, sowie Kerzen zu ihrem Gedenken entzündet werden. Die begangenen Massaker müssen Teil des öffentlichen Gedächtnis werden. Die Menschen aus Dersim müssen uneingeschränkt ihre Sprache sprechen, Kultur pflegen und Religion ausüben können.

Die Teilnehmer der Versammlung richten deshalb an den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan den offenen Aufruf, die schriftlichen Beweise – die er vorgibt zu besitzen – für die Vorkommnisse in Dersim zu veröffentlichen, die er als Massaker bezeichnet. Die Teilnehmer der Versammlung wollen die Worte des türkischen Ministerpräsidenten als einen Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame Zukunft ansehen. Denn sollten diese Worte aufrichtig gemeint sein und nicht allein als taktisches Mittel der Alltagspolitik dienen, dann muss Herr Erdogan bei der Wiederherstellung des Rechts behilflich sein. Auch der türkische Ministerpräsident weiß, dass die Unterschlagung von Beweisen eines Verbrechens strafbar ist. Statt diese Beweise als Druckmittel gegen seine politischen Gegner einzusetzen, sollte Herr Erdogan sie für die Aufklärung dieses Verbrechens einsetzen. Die Geheimarchive müssen geöffnet und das allseits Bekannte Gewissheit werden, damit die Türkei ihre Vergangenheit aufarbeiten kann. Die vorhanden Dokumente dürfen nicht länger zurückgehalten werden. Andernfalls werden die Menschen der Türkei weiterhin in der historischen Dunkelheit ihres Landes verharren. Der Dunkelheit ist genug. Es bedarf des Aufbruchs für ein gemeinsamen Morgen.

Die Versammlung fordert deshalb die Herren Minister- und Staatspräsidenten der Türkei dazu auf, am 4. Mai zusammen mit den Menschen aus Dersim an den Gedenkfeierlichkeiten der Tertele teilzunehmen, um ihre Trauer zu teilen. Die Versammlung fordert die Herren Minister- und Staatspräsidenten der Türkei dazu auf, sich vor dem Andenken an die Zehntausenden ermordeten unschuldigen Frauen, Kindern und alten Menschen zu verbeugen, indem sie den 4. Mai zum offiziellen Gedenktag der Tertele erklären.

Die Teilnehmer der Versammlung rufen darüber hinaus alle Menschen, die für Demokratie, Menschenrechte, Nächstenliebe und Gerechtigkeit eintreten, an diesem bitteren Tag an ihrer Seite zu stehen.

Hochachtungsvoll

  1. März 2010
  • Tertele: Die noch lebenden Überlebenden der Massaker in Dersim bezeichnen die Vorkommnisse von 1938 mit ‚Tertele’, den Tag, an dem die Welt unterging. Das Wort ‚Tertele’ ist mittlerweile in der Gesellschaft Dersims Teil des generationsübergreifenden Gedächtnisses geworden, das mittlerweile im Zusammenhang mit dem Genozid in Dersim gebräuchlich ist.

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