Was ist Oral History (von Prof. Dr. Leyla Neyzi)

Was ist Oral History? (von Prof. Dr. Leyla Neyzi)
Prof. Dr. Leyla Neyzi
Sabancı Universität
Hochschullehrerin der Fakultät für Kunst und Sozialwissenschaften

Seit Hunderten von Jahren lernen die Menschen durch mündliche, traditionelle Erzählungen über die Vergangenheit und überliefern sie so. Im historischen Prozess, auch wenn man in­zwischen von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung übergegangen ist, laufen diese trotz der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien heute noch parallel. Wie kann man die Oral History, die ein neues interdisziplinäres akademisches Gebiet und eine neue Forschungs­methode darstellt, definieren?
Oral History besteht aus mündlichen Überlieferungen aus der Vergangenheit, und zwar aus den im Dialog zwischen dem erzählenden Subjekt und dem Historiker aufgezeichneten Erinnerungen. Oral History fördert Ereignisse und Erlebnisse zu­tage, die in den meisten Fällen von der Geschichtsschreibung nicht aufgezeichnet wurden – oder aber anders aufgezeichnet wurden – und legt den Schwerpunkt auf die individuelle Er­fahrung des Subjekts, welches den geschichtlichen Ablauf anders erinnert als die Geschichts­schreibung und welches die Überbleibsel der Geschichte in seinem Körper trägt. In diesem Zusammenhang fällt es in den Verantwortungsbereich der Oral History, die Aufzeichnungen und Archivierung der Erinnerungen von Zeugen wichtiger Ereignisse in der jüngeren Ge­schichte, insbesondere der Älteren unter ihnen, vorzunehmen.
Oral History beschäftigt sich ebenso mit den Ereignissen der jüngeren Geschichte wie damit, den früheren Ereignissen und Individuen für unsere Zeit Bedeutung beizumessen. Oral History profitiert bei der Erzeugung eigener Materialien vom Gedächtnis der Individuen. Auch wenn es bei einem Oral History-Interview um die Vergangenheit geht, trägt es sowohl die Spuren der Vergangenheit als auch aktuelle Spuren, da es in unseren Tagen durchgeführt worden ist. So betrachtet betrifft Oral History ebenso unsere Gegenwart wie die Ge­schichte. Oral History hat sich parallel zur nationalen Geschichtsschreibung entwickelt und ist, beeinflusst von der klassischen Geschichtswissenschaft, von Marxismus und Feminismus, Postmoderne und den Demokratisierungserfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg, infolge von Hinterfragung entstanden. Die Geschichtswissenschaft, die sich gestützt auf schriftliche Dokumente von Staaten und Eliten entwickelte, hat insbesondere nach den 60er Jahren einfa­che Menschen, Migranten, Frauen, die Arbeiterklasse und ethnische und religiöse Minderhei­ten, die zuvor nicht Gegenstand der Geschichtsschreibung waren und zumeist keine schriftli­chen Dokumente hinterlassen haben, als historisches Subjekt für sich entdeckt. Um deren Geschichte schreiben zu können, hat die Oral History die erlebten Erfahrungen angehört und mittels der vor allem seit den 60er Jahren verbreiteten Tonaufzeichnungsgeräte aufgezeichnet und archiviert und sich so entwickelt. Oral History hat die Betrachtungsweise der Gesellschaft hinsichtlich der Vergangenheit verändert. Sie hat der Erkenntnis zur Durchsetzung verholfen, dass auch einfache Menschen durch ihr Alltagsleben Geschichte schreiben. Aus dieser Sicht betrachtet stellt die Oral History nicht nur ein akademisches Forschungsgebiet dar, sondern ist auch ein Weg zur gesellschaftlichen Veränderung geworden.
Durch die Oral History wurden sowohl von der Geschichtsschreibung der Nationalstaaten unter den Teppich gekehrte Ereignisse zutage gefördert als auch durch die Aufzeich­nung verschiedener Erfahrungen und Kommentare von einfachen Menschen zu bekannten historischen Ereignisse diesen neue Bedeutung beigemessen, ihre Interpretation geändert und somit die klassische Geschichtsschreibung in Frage gestellt. Um die Gegenwart begreifen zu können, ist es erforderlich, die Geschichte zu verstehen. Es verwundert nicht, dass die Oral History erst in den letzten Jahren begonnen hat, sich in der Türkei zu entwickeln. Denn die türkische Gesellschaft hat einen ernsthaften Bruch zu ihrer Vergangenheit erlebt. Es hat sich eine Kluft zwischen den Lebenserfahrungen und Erinnerungen der Individuen und dem, was ihnen als Geschichte gelehrt wurde, aufgetan. Die Unterschiede zwischen den privaten und den öffentlichen Bereichen wurden unter dem Einfluss der weitverbreiteten Angst übertüncht und zur Normalität erklärt. Das in der Vergangenheit Erlebte wurde den neuen Generationen nicht überliefert oder falls doch, so wurde darauf geachtet, dass die Überlieferung im privaten Bereich verblieb. Genau diese Situation hat jedoch in den letzten Jahren begonnen, sich zu ändern. Die Fortentwicklung der Zivilgesellschaft und die Suche nach der individuellen Identität und der historischen Wahrheit führten zu wachsendem Interesse an der Vergangenheit, und somit wurde die herkömmliche Überlieferung in Frage gestellt. Die Arbeit der Oral History spielt in Bezug auf diese Veränderungen eine wichtige Rolle.

Die Aufzeichnung der Ereignisse von Dersim 1937-38 als einem der wichtigsten traumati­schen Ereignisse in der Türkei durch die Oral History ist ein verspätetes Projekt, welches die Dersimer unverzüglich in die Hand nehmen sollten. Im Rahmen dieses Projektes müssen die Erinnerungen und Lebensgeschichten der noch lebenden Zeugen von 1937-38 rasch und mit Hilfe moderner Oral History-Befragungsmethoden mittels Video- und Audio-Aufnahmen archi­viert, diese Archive müssen den Dersimern und der internationalen Forschung zur Nutzung zur Verfügung gestellt und die Geschichte von 1937-38 muss sowohl auf mündliche als auch auf schriftliche Quellen gestützt neu geschrieben werden. Außerdem müssen mit den Dersimern der zweiten und dritten Generation Oral History-Interviews geführt wer­den, um zu erforschen, welchen Einfluss diese traumatischen Ereignisse auf das Bewusstsein und die Identität der Dersimer gehabt haben. Es muss über die Bindungen der Dersimer Bevölkerung an die Vergangenheit und über ihre aktuellen Ansichten zu Identität und Subjekti­vität diskutiert werden.
Das Oral History-Projekt Dersim 1937-38 wird eine in der Türkei vernachlässigte und totge­schwiegene traumatische Geschichte sowohl der türkischen Gesellschaft als auch der interna­tionalen Öffentlichkeit bekannt machen. Es wird auch einen Beitrag zur Wissenschaft leisten und mithelfen, die Geschichte der Wahrnehmung der Gesellschaft in der Türkei zu ändern und die Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins zu fördern. Gleichzeitig wird es dazu beitragen, dass Dersimer aus verschiedenen Generationen sich durch ihre Beteiligung am Pro­jekt an die Vergangenheit erinnern oder davon erfahren und ihren Beziehungen zu ihrer Ver­gangenheit und somit ihrer aktuellen Identität einen anderen Stellenwert beimessen.

Unterstützung für das Oral History-Projekt Dersim 1938 (von Prof. Deborah Dwork)

Unterstützung für das Oral History-Projekt Dersim 1938 (von Prof. Deborah Dwork)
Prof. Deborah Dwork
Professorin für die Geschichte des Holocaust
Direktorin des Strassler-Forschungszentrums für Holocaust- und Genozid-Studien,
Clark-University

Ich fühle mich geehrt, das ,Oral History-Projekt Dersim 1938’ unterstützen zu können. Dieses Projekt, welches eine Initiative von großem historischem Gewicht ist und eine enorme Bedeutung hat, zielt darauf ab, die mündlichen Berichte von Überlebenden und Zeugen des Dersim-Massakers aufzuzeichnen. Das Alter diktiert die Dringlichkeit. Jetzt ist die Zeit, diese Stimmen festzuhalten; jetzt ist die Zeit sicherzustellen, dass jene, die gelitten haben und jene, welche gesehen haben, ein dauerhaftes historisches Zeugnis hinterlassen.

Ich beteilige mich an dem Dersim Oral History-Projekt deswegen, weil ich, eine Historikerin des Holocaust, welche Hunderte von mündlichen Berichten von überlebenden Kindern und Rettern aufgezeichnet hat, die grundlegende Bedeutung dieses Unterfangens erkenne. Die Geschichte einer jeden Person ist ein Faden; gemeinsam weben sie einen reichen Teppich historischer Erfahrung. Ich biete dem Projekt meine Erfahrung und meine akademische Sachkenntnis an. Und ich entbiete allen, die daran beteiligt sind, meine besten Wünsche. Ihr werdet eine reine Idee in ein reiches Archiv verwandeln, das von den kommenden Generationen genutzt werden wird.

Mit freundlichen Grüßen

Rede von Yasar Kaya (im Landtag)

Rede von Yasar Kaya (im Landtag)
Sehr geehrter Herr von Grünberg,
sehr geehrte Frau Kolb,
sehr geehrter Herr Dr. Copur,
sehr geehrter Herr Yüksel,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Dersimer,

ich begrüße Sie herzlich und danke Ihnen sehr dafür, dass Sie uns die Möglichkeit gegeben haben, die Geschichte Dersims bekannt zu machen.
Unser besonderer Dank gilt Herrn von Grünberg und Herrn Yüksel, die uns trotz einiger Diskussionen und Schwierigkeiten die heutige Veranstaltung ermöglicht haben.
Die Region Dersim liegt im Osten der Türkei, in Ostanatolien zwischen den Quellflüssen von Euphrat und Tigris, und bezieht die Städte Tunceli und teilweise Bingöl, Sivas, Elazig und Erzincan ein. Die heutige Provinz Tunceli, die kleinste und zweitärmste der 80 türkischen Provinzen, besteht aus dem ehemaligen Zentral-Dersim. Dersim ist ein buntes Mosaik von Kulturen: Allein die Sprachenvielfalt von Kirmancki/Zazaki, Kurdisch und Türkisch – und bis in die 40er-Jahre auch Armenisch – beweist die kulturelle Vielfalt.
Die Bevölkerungszahl dieser Region ist seit Gründung der Republik Türkei durch Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung kontinuierlich gesunken. Während 1980 in Dersim 154.000 Menschen lebten und heute nur noch 79.000, sich ihre Zahl also fast genau halbiert hat, ist die Bevölkerung der Türkei im gleichen Zeitraum von 40 auf 72 Millionen Einwohner gewachsen. Die Kämpfe in den letzten 30 Jahren zwischen dem türkischen Militär und der PKK fügten Dersim zudem einen noch nicht abzuschätzenden Schaden zu. Viele Dörfer sind zerstört, Wälder wurden in Brand gesetzt, Menschen inhaftiert, gefoltert und getötet. Durch das gigantische Staudammprojekt GAP werden zudem weite Teile unseres Landes überflutet; viele unserer heiligen Stätte wie auch alte armenische Kulturdenkmäler versinken.

Viele Dersimer mussten aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen, und so sind wir überall auf der Welt, aber nicht aber da, wo unsere Wurzeln sind.
An die 200.000 Dersimer leben in Deutschland, alleine in Nordrhein-Westfalen Zehntausende, und viele von ihnen sind inzwischen gut integrierte deutsche Staatsbürger. Wir sind die Kinder und Kindeskinder der vor über 50 Jahren hier in Deutschland angeworbenen, zutiefst traumatisierten und im Bezug auf ihre Identität verunsicherten Hilfsarbeiter.
Über Jahrzehnte hinweg haben unsere Eltern und Großeltern schweigen müssen; geredet wurde nur hinter vorgehaltener Hand. Die Angst ging mit ihnen in die Welt, und so wurde auch hier in Deutschland lange nicht gesprochen. Dafür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens hatten die Auswanderer Angst, dass ihre Kinder sie und sich vielleicht würden rächen wollen, und zweitens mussten sie damit rechnen, in der Türkei als Staatsfeind beschuldigt zu werden, wenn sie ihre Erlebnisse erzählen würden. Verwandtenbesuche, Heimaturlaube – all das war in Gefahr, bis hin zur Inhaftierung wegen „Beleidigung des Türkentums“.
Sie hatten Eltern und Verwandte verloren, wurden als Kinder Zeuge von Massenexekutionen, bei denen sie teilweise unter Leichen begraben wurden und nur so überleben konnten, oder sind mit den unfassbarsten, grauenhaftesten Erzählungen über diese Massaker aufgewachsen.

1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer dieser Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und ihre nahen Verwandten kennenzulernen. Viele von uns sind ohne ihre Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahe Verwandte aufwachsen zu müssen. Diese Gefühle lassen sich in ihrer Kausalität letztendlich nur von Gemeinschaften nachvollziehen, die einem ähnlichen Völkermord ausgesetzt waren.
Trotz alledem war das Volk von Dersim niemals gesonnen, Blutrache zu üben. Dies würde der Nächstenliebe widersprechen, welche die Traditionen und die Kultur unseres Volkes lehren.
In Deutschland lebt eine große Anzahl der anatolischen Minderheiten, die allesamt als „Türken“ eingeordnet werden: Dersimer, Armenier, Pontos-Griechen, Assyrer, Kurden und andere mehr haben zusammen mit Türken, Italienern, Jugoslawen und anderen „Gastarbeitern“ die Entwicklung in Deutschland vorangebracht, haben mit zu seinem Wohlstand beigetragen, haben als Hilfsarbeiter bei Ford, Opel oder anderen Fabriken gearbeitet.

Darf ich Ihnen zwei Beispiele aus meinem Bekanntenkreis geben?

Yusuf Güzel, ein Zeitzeuge, ist 1932 zur Welt gekommen, 1966 kam er nach Deutschland. Er arbeitete bis zu seiner Rente 1992 bei Ford in Köln und ist am 22 Juni 2012 gestorben. Sein Sohn Haydar arbeitet ebenfalls seit 1981 bei Ford und ist ein Gewerkschaftler. Seine Enkelkinder Onur und Baris gehen beide zur Universität. Sie alle sind deutsche Staatsbürger.
Mein Onkel Hasan Kaya, geboren 1932 in Dersim, ist auch ein Zeitzeuge des Völkermords in Dersim. Als mein Großvater erfuhr, dass die Nachbardörfer überfallen und die Menschen umgebracht worden waren, schickte er seine drei Söhne in den Wald, damit sie nicht alle getötet würden. Die Tragödie seiner Familie spielte sich vor seinen Augen ab. Er beobachtete aus seinem Versteck heraus, wie Soldaten die Menschen unter Flüchen und Schreien aus ihren Häusern trieben, sie zum Bach „Derê Meyitu“, dem „Leichenbach“, brachten und sie dort töteten. Dabei verlor er seine Mutter, seine Großmutter, seinen Vater, zwei Schwestern und die Tochter seiner Schwester.
Er kam 1966 nach Deutschland und arbeitete bei Opel bis zur Rente. Alle seine Kinder und Kindeskinder leben in Wiesbaden; alle zehn Enkel sind gute Schüler hier in Deutschland.

Zusammen mit unserem Dachverband, der „Föderation der Dersim Gemeinden in Europa e.V.”, kurz „FDG“, haben wir endlich das Schweigen gebrochen und bei der Aufarbeitung unserer Geschichte einen sehr konkreten, unschätzbaren Dienst geleistet: Mit fast 350 Zeitzeugeninterviews und fast 800 Stunden Rohmaterial haben wir das Schweigen beendet und das politische Bewusstsein über den Völkermord geschärft, so dass unter anderem eine Entschuldigung folgte. Immerhin: Ministerpräsident Erdogan hat sich am 23 November 2011 offiziell entschuldigt. Für die Aufarbeitung war diese Entschuldigung ein sehr wichtiger Schritt, dem bis jetzt aber leider keine Taten gefolgt sind. Auch stimmen die offiziellen Zahlen von zum Beispiel 13.806 getöteten Menschen nicht; vermutlich waren es um die 50.000. Und die Repressionen in der Region Dersim endeten auch in den letzten vierzig Jahren nicht.

Der Startschuss zu dem Dersim 1937-38 Oral History Projekt

Der Startschuss zum Dersim 1937-38 Oral History Projekt fiel im September 2008 in Dortmund. Mitglieder der FDG, Dersimer Akademiker und Politiker beschlossen, das „1937-38 Zeitzeugenprojekt“ ins Leben zu rufen, um zumindest die Aussagen der letzten Überlebenden zu sichern. Das „Dersim 1937-38 Oral History Projekt Komitee“ wurde gebildet, das sich aus dem Vorsitzenden der FDG, Akademikern aus dem Gebiet der Sozialwissenschaften, Pressemitarbeitern und IT-Technikern zusammensetzt. Das Komitee übernahm die Planung, die Organisation und die Durchführung des Projektes.

Vorbereitung für die Interviews

Um die Projektmitarbeiter zu qualifizieren, wurden drei Bildungsseminare über die Oral History, die Interviewführung, die Interview- und Datensicherung sowie Archivierungstechniken mit Unterstützung von Professoren der Clark Universität in Michigan, bedeutenden Universitäten in der Türkei und der „Stiftung Denkmal“ in Berlin abgehalten. Unter akademischer Anleitung wurden analog zu einem Leitfaden der „Shoah-Foundation“ Fragebögen erarbeitet und ein Handbuch über die Geschichte und Kultur Dersims für die Interviewer fertiggestellt.
Zur Aufzeichnung wurden verschiedene Materialen besorgt wie Kameras, Tonbandgeräte und Fotoapparate.
Die nach dem Shoah-Stiftungsmuster erstellten Fragebögen zur Geschichte Dersims der Jahre 1937-38 wurden samt Einverständnisserklärung bereitgestellt. In Dersim wurde ein Büro als Anlaufstelle für die Zeitzeugen und als Informationspunkt für alle Interessierten eröffnet.
Kampagnen, TV-Programme und über 40 Informationsabende fanden inzwischen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und in der Türkei statt, um die Dersimer auf die Dringlichkeit des Projektes aufmerksam zu machen und soweit wie möglich inhaltliche und finanzielle Unterstützung von ihnen zu bekommen. Das Projekt wurde und wird komplett von Spenden der Dersimer getragen.

Einige Informationen zum Projekt.
Als wir 2009 angefingen, hatten wir uns zum Ziel gesetzt, 150 Zeitzeugen zu erreichen. Nach 73 Jahren suchten wir nach ihnen. Da das Durchschnittsalter in der Türkei bei Männern bei 71 und bei Frauen bei 76 Jahren liegt, hatten wir große Sorgen, den Wettlauf mit der Zeit zu verlieren. Aber schon nach kurzer Zeit bekamen wir zahlreiche Adressen von Zeitzeugen von überall her, und immer neue Hinweise und Daten trafen bei uns ein. Längst hatten wir die Zahl von 150 erreicht, aber wir konnten nicht aufhören, immer neue Interviews wurden und werden gemacht, und immer wieder bekommen wir wieder neue Namen. Bis jetzt haben wir 350 Zeitzeugen interviewt, unter ihnen auch zwei Soldaten, die damals ihren Militärdienst in Dersim geleistet haben, und einige der verschollenen Töchter Dersims. Leider haben wir nicht alle rechtzeitig erreichen können: Einige sind gestorben, während wir uns vorbereiteten.

• Der älteste Zeitzeuge wurde 1894 geboren, die meisten der Zeitzeuge waren beim Völkermord zwischen 6 und 12 Jahren alt.
63% sind Männer, 37% sind Frauen
• In 8 Ländern und über 40 Städten sind Interviews gemacht worden, davon 22 in Deutschland.
• Die Zeitzeugen gehören 43 verschiedenen Stämmen an, darunter auch 9 Ocaks (Heilige Stämme)
• Die Interviews wurden in verschiedenen Sprachen geführt: 77% in Kirmancki/ Zazaki, 5% in Türkisch, 18% in Kirdaski (Kurdisch)
• Die Durchschnittslänge der Interviews beträgt 88 Minuten.
• Während des Völkermords wurden 19% verwundet, 60% haben ihre Familienangehörigen verloren, 88% haben den Massenmord selbst
erlebt, 62% konnten sich im Wald oder in Höhlen verstecken, 36% wurden nach dem Massaker nach Westen verbannt, 2% sind unter
Leichen am Leben geblieben.
• Für die Sicherung der Dateien wurden die Interviews dreimal bei drei Personen in drei verschiedenen Ländern gespeichert.
• Das Komitee ist dabei, einen Projektbericht fertigzustellen und diesen als Buch zu veröffentlichen.

Ziel: In Deutschland die Interviews für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen und in Dersim ein Archiv- und Dokumentationszentrum für Dersim 1937-38 zu errichten.

Das anfängliche Ziel des Projekte war, so viele Zeitzeugen wie möglich ausfindig zu machen und deren Aussagen und Erinnerungen anhand moderner audio-visueller Medien im Einklang mit akademischen Standards und Richtlinien zu erfassen. Das langfristige Ziel besteht nun darin, die Informationen zu transkribieren und danach auf Türkisch, Deutsch und Englisch zu übersetzen, um die Daten dann zusammen mit anderen Informationen, Dokumenten, Fotos und Filmen in einem Archiv- und Dokumentationszentrum der Öffentlichkeit, der Forschung und anderen Institutionen zur Verarbeitung und Aufarbeitung zur Verfügung zu stellen.
Mit der Aufarbeitung des Themas hoffen wir zum einen, eine ausgewogenere Geschichtsschreibung als Alternative zur offiziellen Geschichtsschreibung zu bieten, und zum anderen, eine wahrhaftige Aufarbeitung des Traumas für die Dersimer zu ermöglichen. Im weiteren glauben wir, dass das Wissen um die tolerante und friedliebende Dersim-Kultur, die eine wirklich demokratische, gleichberechtigte und multikulturelle Gesellschaft darstellte, ein Gewinn für die deutsche Öffentlichkeit sein wird.
Wir benötigen tatkräftige Unterstützung, um unserer Aufgabe gerecht zu werden. Die Wahrheit, die so lange verschüttet war, drängt ans Licht, und unsere letzten Überlebenden und ihre Nachfahren haben ein Recht auf ihre Geschichte.
Aber auch für einen gesellschaftlichen Frieden ist unsere Arbeit sehr wichtig. Wie oft führen Unwissen und Missverständnisse zu Spannungen, sei es in der Türkei oder auch hier in Deutschland. Wenn Schüler in deutschen Schulen keine Möglichkeit haben, sich umfassend und ausgewogen über die türkische Geschichte zu informieren, wird es immer wieder zu Streitigkeiten kommen, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind. Man stelle sich vor, es gäbe keine Literatur oder andere Aufzeichnungen zum Völkermord an den Juden in Deutschland – wie sollten deutsche Schüler die Geschichte ihres Landes begreifen, mit ihr und mit Juden in Deutschland gemeinsam in Frieden leben?
Und so bitte ich Sie: Helfen Sie uns bei unserer Arbeit, damit wir sie nachhaltig zur allgemeinen Verwendung bereitstellen können: in Museen, Schulen und Universitäten, für Historiker, Lehrer und Kulturinteressierte, für Bürger, Politiker und Menschen in der Integrationsarbeit, für die Nachfahren der Opfer und für die Nachkommen der Täter, für alle Menschen, die die Wahrheit erfahren und in Frieden zusammenleben wollen. Denn nur die Wahrheit kann uns frei machen!

Düsseldorf, 13.05.2013
Projektleiter des Dersim 1937-38 Oral History Projekts
Yaşar Kaya

Rede von Leyla Gündüzkanat

Rede von Leyla Gündüzkanat
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Kittel,
sehr geehrter Herr Dr. Kossert,
sehr geehrte Damen und Herren

liebe Gäste,

im Namen der Föderation der Dersim Gemeinden begrüße ich Sie herzlich. Wir bedanken uns sehr bei der Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung für diese Veranstaltung, um einen fast vergessenen Völkermord ans Tageslicht zu bringen. Ebenso möchte ich mich für die Unterstützung von Frau Hirsch und Herrn Zimmermann bedanken.

Wir alevitischen Kirmanc/Zaza und alevitischen Kirdas/Here Were sprechenden lebten vor hundert Jahren, noch vor 1915, in der Region Dersim viel Sprachig und friedlich mit Armeniern zusammen. Kurz nach den Übergriffen auf unsere armenischen Nachbarn wurden auch wir Opfer eines unbegreiflichen Pogroms. Noch vor dem Beschluss des türkischen Kabinetts vom 04.05.1937 hatte das türkische Militär mit Bombardierungen von Dersim begonnen. Doch diesen Tag, den 04.05., haben wir als unseren Gedenktag an die ermordeten Menschen und an das Massaker von Dersim festgelegt.

Alle Rechtfertigungsversuche für die begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit scheitern, und so ist auch der Völkermord an den Dersimern nicht zu rechtfertigen. Wir passten mit unserem İtıqatê Dêsim Glauben nicht zum sunnitischen Türk-Menschenbild.

Ein verantwortungsbewusster Staat sorgt für die Aufarbeitung eines von ihm begangenen Unrechtes, um weitere Verbrechen zu vermeiden. Hier dient Deutschland als ein sehr gutes Beispiel, doch leider ist die Türkei noch nicht so weit. Sogar die Fakten über das Ausmaß des Dersim-Völkermord sind durch politische Kalküls vernebelt, und so hat es in den letzten 75 Jahren keine nennenswerten, unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchungen gegeben.

Immerhin: 2011 hat sich der türkische Ministerpräsident Erdogan offiziell entschuldigt. Für die Aufarbeitung war diese Entschuldigung ein sehr wichtiger Schritt, leider folgten bis jetzt keine Taten. Noch immer werden wichtige Dokumente unter Verschluss gehalten, z.B. ist auch die Liste der verschollenen Mädchen immer noch nicht veröffentlicht. Das – als ein Beispiel – wäre ein konkreter Schritt, um vielen, noch lebenden Menschen bei der Suche nach ihren Verwandten zu helfen. Auch die offiziellen Zahlen mit 13.806 getöteten Menschen stimmen nicht, vermutlich waren es um die 50.000. Die Repressionen in der Region Dersim endeten auch in den letzten vierzig Jahren nicht. Die Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und der PKK fügten Dersim zudem einen noch nicht genau abzuschätzenden Schaden zu mit vielen Tausend Toten, mehreren Tausend Inhaftierungen mit Folgeschäden und mehreren Hundert zerstörten Dörfern. Und naturgemäß der Vertreibung. So sind wir Dersimer überall auf der Welt, nicht aber da, wo unsere Wurzeln sind.

Um die 200.000 Dersimer leben in Deutschland, viele von ihnen sind gut integrierte deutsche Staatsbürger. Wir – in der zweiten und dritten Generation oft auch gut ausgebildet, oft auch Akademikerinnen und Akademiker – wir sind die Kinder der vor 45 Jahren hier in Deutschland angeworbenen, zutiefst traumatisierten und im Bezug auf ihre Identität verunsicherten Hilfsarbeiter.

Über Jahrzehnte hinweg haben unsere Eltern schweigen müssen, geredet wurde nur hinter vorgehaltener Hand. Die Angst ging mit ihnen in die Welt, so wurde auch hier in Deutschland lange nicht gesprochen. Sie hatten Eltern und Verwandte verloren, wurden als Kinder Zeuge von Massenexekutionen, bei denen sie teilweise unter Leichen begraben wurden und nur so überleben konnten, oder sind mit den unbegreiflichsten, grauenhaften Geschichten über dieses Massaker aufgewachsen.Heute verstehe ich die unermessliche Trauer und die Sprachlosigkeit meiner Mutter und meines Vaters besser. Mutters Urgroßvater wurde Anfang 1900 hingerichtet, weil er ein alevitischer Dede war. 1925 wurde ihr Großonkel, einer der ersten Abgeordneten im türkischen Parlament, hingerichtet. Dann schließlich, während der Massaker von 1937 und ’38, verlor sie nicht nur einzelne Verwandte: – ganze Familien aus ihrer Verwandtschaft wurden ausgelöscht oder deportiert.

Auch die Schwierigkeit meines Vaters, über seinen Großvater zu sprechen, der mit 14 Gefolgsleuten erschossen wurde, verstehe ich heute. Ich verstehe den Schmerz hinter dem Schweigen.

Insbesondere auf Grund meiner akademischen Ausbildung hier in Deutschland weiß ich, wie wichtig es ist, sich bei der Aufarbeitung den Erinnerungen zu stellen und das Schweigen zu brechen.

Mit dieser Veranstaltung haben wir die Möglichkeit erhalten, den Völkermord an uns Dersimern öffentlich zur Sprache zu bringen. Als mehrheitlich gut integrierte deutsche Staatsbürger brauchen wir aber die Unterstützung durch unsere deutsche Regierung – gerade auch in Bezug auf die historische Aufarbeitung und die Entwicklung einer angemessenen Gedenkkultur mit Gedenktagen und Gedenkstätten.

Mit unserem Dachverband – dem “Föderation der Dersimgemeinden”- haben wir bereits das Schweigen gebrochen und bei der Aufarbeitung unserer Geschichte einen sehr konkreten, unschätzbaren Dienst geleistet: mit fast 350 Zeitzeugeninterviews und mit fast 1000 Stunden Rohmaterial haben wir das bisher Verschwiegene ans Tageslicht geholt und so ein politisches Bewusstsein über den Völkermord entwickelt und geschärft. Diese Interviews dienen einerseits unserem kollektiven und individuellen Gedächtnis, andererseits als eine wichtige Quelle für die wissenschaftliche Forschung. Um sie der Öffentlichkeit und der Forschung zur Verfügung stellen zu können, sind wir jedoch auf Hilfe angewiesen, um sie archivieren und übersetzen zu können. Leider reichen unsere eigenen fachlichen und finanziellen Ressourcen nicht mehr, um die Masse der Zeitzeugeninterviews abschließend bearbeiten zu können.

Wir erhoffen daher vom deutschen Staat und seinen Organen zweierlei:

einerseits eine finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der erwähnten Erschließung und Veröffentlichung der Zeitzeugenberichte.

Zum anderen erbitten wir Orte des Gedenkens, ähnlich derer von den verfolgten und ermordeten Juden, Sinti, Roma und anderer. Nicht das der deutsche Staat eine Verantwortung gegenüber den Massakern in Dersim trüge. Bei weitem nicht. Als Bürger dieses Landes aber wäre es Beispielgebend (auch für viele andere Staaten), wenn auch wir Dersimer hier in Deutschland sichtbare Orte hätten, an denen wir unserer Geschichte gedenken und unsere Kultur als Deutsche mit alevitischen Wurzeln pflegen könnten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Leyla Gündüzkanat (29.04.2013)

Heilige Erde unter Druck

Im Jahr 1938 sind sehr schlimme Dinge geschehen. Und wir, die Überbleibsel von Zehntau­senden Ermordeter und Eingekerkerter, wurden in die westlichen Provinzen deportiert. Ich bin das Kind eines Deportierten. Ende 1947 sind wir infolge einer Amnestie zu unserer heiligen Erde, nach Dersim, zurückgekehrt. Unsere Bauern besuchten in freudigem Wiederse­hen die heiligen Orte, sie verteilten Krapfen und schlachteten Opfertiere.
Aber die ausgeübte Unterdrückung, die Greueltaten und Vertreibung fanden kein Ende.
Sie haben unsere heiligen Orte in einen solchen Zustand versetzt, dass es unmöglich ist, dort zu leben, weswegen heute etliche hunderttausende Dersimer in der Fremde leben. Bei der Deportation von 1938 wurden wir, die Dersimer, auf die Provinzen des Westens ab Kayseri verteilt, deren Sprache, Sitten und Gebräuche wir nicht kannten. Wir wurden über die ganze Welt zerstreut; deswegen sollten wenigstens unsere Erinnerungen, unsere Bilder, unsere Erlebnisse gesammelt werden. Ich gratuliere unseren jungen Leuten herzlich und küsse ihre reine Stir­nen, weil sie versuchen, unsere Erlebnisse, unsere Lieder, unsere Klagen zu sammeln.

Ich unterstütze die Arbeit des Oral History-Projektes Dersim 1937-38 von ganzem Herzen. Ich beziehe eine Rente. Ich erkläre hiermit, dass ich einen Teil davon für dieses sinnvolle Pro­jekt spenden werde.

Hüseyin Kaya
Ehrenvorsitzender der FDG (Föderation der Dersim Gemeinden in Europa), Zeuge von ’38

Gespräch der FDG-Delegation mit dem stell. türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç am 2. Dez. 2011

Gespräch der FDG-Delegation mit dem stell. türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç am 2. Dez. 2011
Eine Delegation unter der Leitung des Vorsitzenden der Europa-Föderation der Dersim-Vereine (FDG) Yaşar Kaya hat den stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç besucht.
Die Delegation, der auch der Urenkel von Seyid Rıza, Rüstem Polat, angehörte, dankte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan für seine Erklärung: „Wo sich der Staat im Zusammenhang mit den Vorfällen von Dersim entschuldigen muss, da würde ich mich gern dafür entschuldigen und so entschuldige ich mich jetzt ausdrücklich dafür.“ Ferner dankte die Delegation auch Arınç für seine Worte, es sei möglich, „einen Ausschuss mit der Zielsetzung der Aufarbeitung der Geschichte zu gründen“.

Yaşar Kaya sagte: „Wir sind unserem Herrn Ministerpräsidenten zu Dank verpflichtet. Was die Machenschaften in Dersim im Jahr 1937 angeht, so hat er die Einwohner von Dersim durch die Äußerung seines Bedauerns getröstet. Durch diese Erklärung ist in der Türkei neben die bisherige offizielle Geschichtsdarstellung nun das Geschichtsregister der tatsächlichen Ereignisse gestellt worden.“ Die Delegation forderte Unterstützung für die Einrichtung eines Ausschusses im Parlament, um die Vorfälle in Dersim im Jahr 1937 zu untersuchen.

Der stellvertretende Ministerpräsident Arınç empfing den Vorsitzenden der Europa-Föderation der Dersim-Vereine Yaşar Kaya, den Generalsekretär der Europa Dersim-Vereine Kemal Karabulut, den Urenkel von Seyid Rıza, Rüstem Polat und den Zweiten Vorsitzenden der Europa-Föderation der Dersim-Vereine İbrahim Aktaş.

-“Ein Geschichtsregister der wahrheitsgemäßen Darstellung der historischen Ereignisse ist eröffnet worden“-

Der Leiter der Delegation Yaşar Kaya begann seine Erklärungen bei dem Gespräch, das im Amtszimmer von Arınç im Amt des Ministerpräsidenten stattfand, mit Genesungswünschen an Ministerpräsident Erdoğan, der sich einer Operation unterziehen musste. Kaya sagte weiterhin: „Wir sind ihm zu Dank verpflichtet. Was die Machenschaften in Dersim im Jahr 1937 angeht, so hat der Herr Ministerpräsident die Einwohner von Dersim durch die Äußerung seines Bedauerns getröstet. Diese Äußerung ist unserer Meinung nach eine sehr wichtige Erklärung. Durch diese Erklärung ist in der Türkei neben die bisherige offizielle Geschichtsdarstellung nun das Geschichtsregister der tatsächlichen Ereignisse gestellt worden, und die erste Seite dieses Registers der historisch korrekten Geschichtsdarstellung beginnt mit Dersim. Unser Ministerpräsident hat diesbezüglich einen sehr wichtigen Schritt unternommen. Wie die folgenden Seiten dieses Registers nun wiederum gefüllt werden sollen, was man zukünftig alles in dieses Register aufnehmen will, obliegt als Last gänzlich der türkischen Gesellschaft und ist von ihr zu schultern. Es geht darum, wie wir uns der Geschichte stellen wollen.“

-„Wir messen der Erklärung unseres Ministerpräsidenten eine sehr hohe Bedeutung bei.“-

Der Vorsitzende der Europa-Föderation der Dersim-Vereine Yaşar Kaya sagte: „Nach den Erklärungen unseres Ministerpräsidenten ist die Welt nicht untergegangen. Ganz im Gegenteil – sie haben zu einer Entspannung der Lage geführt“. Er brachte ferner zum Ausdruck, dass sich bei den Bewohnern von Dersim nach den Erklärungen von Erdoğan die Ansicht herausgebildet habe: „ Ja, unser Schmerz wird verstanden; ja, unsere Wunde wird wahrgenommen.“

Yaşar Kaya äußerte sich dazu ferner folgendermaßen: „Die Wunde von Dersim hatte sich nie geschlossen. Von außen erschien es so, als ob sie sich geschlossen hätte, aber nach innen blutete sie weiter. Die Türkei hat heute nunmehr in Hinsicht darauf, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen, einen sehr großen Schritt nach vorne getan. Wenn man sich mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert und sie sich ins Gedächtnis zurückruft, kann der Prozess der Versöhnung eingeleitet werden. Ohne diese geschichtliche Aufarbeitung kann leider auch keine Versöhnung erfolgen. In dieser Hinsicht messen wir der Erklärung unseres Ministerpräsidenten eine sehr hohe Bedeutung bei.“

  • „Die Gründung eines Ausschusses ist sehr wichtig“-
    Yaşar Kaya , der dem stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç für seine Erklärung dankte, bezüglich der Vorfälle in Dersim könne „ein Ausschuss mit dem Auftrag der Aufarbeitung der Geschichte“ gegründet werden, erklärte in diesem Zusammenhang: „Auch Ihrer Erklärung messen wir einen hohen Stellenwert bei. Auch Ihnen sind wir zu Dank verpflichtet. Die Einsetzung eines solchen Ausschusses ist sehr wichtig. Vor dem Gespräch mit Ihnen hatten wir bereits eine Unterredung mit Kemal Kılıçdaroğlu und haben ihm unsere Forderungen übermittelt. Wir kommen gerade von diesem Treffen.

Es muss dafür gesorgt weden, diese Angelegenheit aus dem tagespolitischen Streit und der Polemik zwischen den Parteien herauszuhalten. Nach unserer Überzeugung wäre es besser, sie als Menschenrechtsproblematik und gesellschaftliche Wunde zu behandeln und untereinander das Gespräch darüber zu suchen, wie der damit einhergehende Schmerz einer Linderung zugeführt werden kann. Da es gegenwärtig immer noch Menschen gibt, die mit den ihnen zugefügten Schusswunden und Bajonettverletzungen von damals leben, wäre es der Sache angemessener, sich dabei einer Sprache zu bedienen, die den Erinnerungen dieser Menschen, ihrem Schmerz und ihrem Andenken Respekt zollt. Es wäre indessen nicht richtig, so zu tun, als gäbe es diese Wunde gar nicht und zu versuchen, sie einfach zu überdecken.Vielmehr muss man sich ihrer Existenz stellen; hinsichtlich der Geschichte der Türkei könnte dies zu einer Chance für Demokratie, ein Zusammenleben in Frieden und Aussöhnung werden.”

-“Die Gräber sollen geöffnet werden, die zwangsadoptierten Kinder sollen aufgefunden werden” –

Yaşar Kaya, der zum Ausdruck brachte, dass er dazu bereit sei, die Arbeit des Ausschusses zu unterstützen, sagte ferner:
“Die Bevölkerung von Dersim hat sich zu keiner Zeit von Rachsucht und Groll leiten lassen. Wir haben mit über 250 Personen, die Zeuge der Vorfälle von 1937 waren, diesbezüglich Gespräche geführt. Mit Ausnahme einer Person hat niemand ein zornige Wort gebraucht. Niemand hat Worte des Abscheus benutzt. Die Befragten haben allerhöchstens gesagt: “Wir haben unsere Sache vor Gottes Propheten im Himmel gebracht, damit er uns in unserer Not zu Hilfe komme.Wir haben unsere Sache dem höchsten Gericht, der Gerichtsbarkeit Gottes, anheim gestellt.” Diese Haltung rührt aus unseren Überzeugungen, aus dem, was wir glauben. Wir denken, dass es hinsichtlich des Aspektes der Aufarbeitung der Geschichte seitens der Türkei sehr wichtig sein wird, sich klarzumachen, wie groß der Schmerz dieser friedliebenden Volksgruppe ist!”

Kaya unterteilte die Forderungen der Bevölkerung von Dersim nach “Öffnung der Gräber, Öffnung der Archive, Auffindung der zwangsadoptierten Kinder” in kurzfristige, mittelfristige und langfristige Forderungen und führte aus: “Unsere Wünsche bestehen darin, dass als allererstes die CHP und die AK-Partei zusammenkommen und eine Absichtserklärung hinsichtlich des zu gründenden Ausschusses abgeben. Dies ist nicht Angelegenheit einer Partei allein… Und so fordern wir, dass dies als parteiübergreifendes Problem behandelt wird. Wenn es etwas gibt, das wir diesbezüglich tun können, so sind wir bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten. Wenn in diesem Ausschuss auch die Bevölkerungsgruppe von Dersim repräsentiert wäre, so wäre dies nur recht und billig. Denn es wäre nur angemessen, wenn auch sie als Geschädigte dort vertreten wären.”

-“Die Erklärung unseres Ministerpräsidenten hat mich bewegt”-

Auch der Nachkomme von Seyid Rıza Rüstem Polat übermittelte zunächst seine Genesungswünsche an Ministerpräsident Erdoğan und sagte dann: „Ich habe mich über die Erklärung unseres Ministerpräsidenten sehr gefreut und war bewegt. Meine Bitte besteht darin, dass es über das Parlament zu einer Lösung kommt. Man soll endlich aufdecken, wo die Gräber sind. Schon seit Jahren ist dies unser sehnlichster Wunsch. Man soll uns sagen, wo die Gräber sind, damit wir dort beten und unsere Opfer darbringen können. Gegebenenfalls wollen wir dort ein Denkmal errichten. Nur das wollen wir; wir haben keinerlei Hintergedanken.” Auf die Frage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç hin erklärte Rüstem Polat, er sei sowohl mütterlicher als auch väterlicherseits der Urenkel von Seyid Rıza, weil sein Vater und seine Mutter als Cousin und Cousine väterlicherseits verwandt seien: „Meine Mutter und mein Vater sind die Enkel von Seyid Rıza . Ich bin also der Urenkel. Mein Urgroßvater Seyid Rıza hatte eine Tochter. Meine Tante väterlicherseits ist noch am Leben. Unsere Dörfer sind verfallen. Dort ist niemand mehr. Ich lebe schon seit 16 Jahren in Deutschland. Aber ich sehne mich nach unseren Dörfern.“

-“Die meisten Exilierten wurden nach Eskişehir, Bursa und Aydın verbracht“-

Auf die Frage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç bezüglich der exilierten Bewohner von Dersim: „In welche Orte der Türkei wurden die Exilierten hauptsächlich verbracht?“ entgegnete der Vorsitzende der Europa-Föderation der Dersim-Vereine Yaşar Kaya:
„Sie wurden in die Provinzen westlich von Kayseri geschickt. Jedem Dorf wurde lediglich eine Familie zugewiesen. Der betreffenden Familie war es untersagt, in ein anderes Dorf zu ziehen. Sehr oft siedelte man die Menschen auch in Städten wie Eskişehir, Bursa und Aydın an.“

  • “Sie berichtete von der Ermordung schwangerer Frauen“-

Der Generalsekretär der Föderation der Europa Dersim-Vereine Kemal Karabulut wiederum gab folgenden grauenhaften Vorfall wieder, von dem ihm seine Mutter vor 10 Jahren berichtet hatte:
“In unserem Dorf gab es unter den Menschen, die man auf dem Dorfplatz zusammengetrieben hatte, um sie niederzumetzeln, auch zwei hochschwangere Frauen. Einer der Dorfältesten, ein würdiger alter Mann, flehte den Offizier an: “Bitte, gib uns doch wenigstens etwas Zeit, damit diese Frauen ihre Kinder gebären können! Ich gebe Dir mein Ehrenwort, dass ich sie danach zu Euch bringe und euch übergeben werde. Daraufhin gab es kurz Unruhe unter den Soldaten, aber danach kamen sie zu einem felsigen Abhang, den es immer noch in unserem Dorf gibt, und der Offizier erstach auch diese beiden schwangeren Frauen und warf sie den Felsabhang hinunter.”

Karabulut sagte:”Herr Minister, wir sind mit diesen grauenhaft schmerzlichen Vorfällen aufgewachsen, und darüber hinaus wurde auch noch Geschichtsverzerrung betrieben! Man versucht, diesen wehrlosen Menschen einzureden, die Greuel seien von “Banditen” begangen worden. Wir fordern, dass diese schmutzigen Praxis korrigiert wird. Deshalb bitten wir Sie, uns bezüglich der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zur Wahrheitsfindung zu unterstützen.”

-“Dersim-Kalender in Zazaca“-

Die Delegation überreichte dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Arınç als Geschenk einen im Zazaca-Dialekt verfassten Kalender, in dem spezielle für Dersim typische religiöse Feiertage und Kulturtage abgebildet sind.

Arınç unterhielt sich mit dem Urenkel von Seyid Rıza, Rüstem Polat, über eine Fotografie, die seinen Urgroßvater mit Filzhut zeigt und sagte, indem er die Fotografie aus der Zeitschrift in seiner Hand betrachtete: „Das muss ein Foto sein, das unmittelbar vor seiner Hinrichtung gemacht wurde… Gott möge sich seiner Seele erbarmen! Auf dem Foto wirkt er sehr mühe und erschöpft.“

-“Und die Knochen liegen unter freiem Himmel im Massengrab…“-

Yaşar Kaya, der dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Arınç ein Dossier überreichte, das aus Fotografien des Archivs seines Vereins besteht, sagte: „Wir haben einen Zeugen gefunden, der erklärt hat, dass jede einzelne der Personen auf der Fotografie, die Sie in der Hand halten, umgebracht wurde, nachdem dieses Foto gemacht wurde.“

Kaya sagte ferner: „Aus den Dörfern rund um Erzincan wurden 100 Personen zusammengetrieben und nach einem Fußmarsch von 3 Tagen auf dem Gipfel eines Berges umgebracht. Diese Knochen liegen dort immer noch unter freiem Himmel. Auch heute noch gibt es Verwandte dieser Menschen unter uns. Wir haben uns an die Staatsanwaltschaft gewandt mit der Forderung, diese Knochen einem DNA-Test zu unterziehen… Aber die Staatsanwaltschaft hat dies leider abgelehnt.. Die Knochen liegen immer noch unter freiem Himmel.“

-“Wir haben mit 250 Zeugen gesprochen“-

Yaşar Kaya, der berichtete, dass sie an einem Projekt arbeiteten, dem sie den Namen „ Die Kinder von Dersim 1937-1938“ gegeben hätten, sagte außerdem: „Wir betreiben ein Projekt mit dem Namen: “Was sich in Dersim zugetragen hat“. Die Durchführung des Projektes entspricht internationalen Standards. Wir haben mit 250 noch lebenden Zeugen gesprochen. Darunter sind zwei, die als Soldaten in Dersim waren. Fünf dieser Zeugen wurden aus Dersim verschleppt und anschließend als Kinder zwangsadoptiert. Bei den restlichen Zeugen handelt es sich um Personen, die die Vorfälle in den Jahren 1937-1938 als Kinder miterlebt haben. Wir möchten Ihnen eine CD eines 10 minütigen Mitschnitts eines Gesprächs übergeben, das wir mit einem der oben erwähnten Soldaten geführt haben. Dieser Soldat lebt gegenwärtig in Bodrum bei seinen Kindern. Er ist über 100 Jahre alt und berichtet völlig ungeschönt über die Greuel von Dersim in all ihrer nackten Brutalität .“

AA (Ajans Anatolien)

Andankstag des Terteles 4. Mai

Nun ist die Zeit, aus dem Dunkel der Diskriminierung hervorzutreten,
um den Weg der Gerechtigkeit zwischen den Rassen zu beschreiten.
(Martin Luther King)

An die Öffentlichkeit
Schlussdeklaration der Versammlung vom 6. März 2010
zur Tertele* (dem Völkermord) in Dersim in den Jahren 1937 und 1938

  1. Mai – Gedenktag der Tertele in Dersim

Am 6. März 2010 fand in Köln eine Versammlung statt, an der zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller, Akademiker und Künstler aus der Türkei und Deutschland, sowie Vertreter von zivilgesellschaftlichen Institutionen aus Dersim teilnahmen.

Auf der Basis der geführten Diskussionen wurden unten stehende Beschlüsse verabschiedet:

Die Tertele bzw. der Genozid in Dersim von 1937 bis 1939 ist kein vereinzeltes Massaker. Vielmehr richteten sich die Massaker im Zeitraum von 1937 bis 1938, die den Höhepunkt einer über Jahrzehnte geführten politischen Diffamierungskampagne darstellten, gegen eine Gemeinschaft mit einer eigenen politischen, sozialen und kulturellen Identität; mit dem Ziel, deren Lebensart zu beseitigen, die dem osmanisch-türkischen Staat ein Dorn im Auge war.

Sowohl die Lebensart als auch die politisch-soziale und kulturelle Identität der Menschen aus Dersim standen im Widerspruch zur osmanisch-türkischen Staatstradition, weshalb sie sich systematischer Unterdrückung, Assimilation und systematischem Terror ausgesetzt sahen.

Die Tertele von 1937 bis 1938 war ein Wendepunkt, an dem die – gegen das Volk aus Dersim gerichtete – Unterdrückungs- und Assimilationspolitik des türkisch-osmanischen Staates in eine Politik der Ausrottung mündete. Aus diesem Grund erklärt die Versammlung den 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim. Die Versammlung verneigt sich vor dem Andenken der im Rahmen der Tertele ermordeten Menschen und verurteilt die Verantwortlichen des Massakers auf das Schärfste; aber auch diejenigen, die sich mitschuldig machen, indem sie darüber schweigen oder die Spuren verwischen.

Die Versammlung fordert die türkische Regierung dazu auf, den 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim zu erklären. Sie erwartet von der derzeitigen Regierung, sowie allen zukünftigen Regierungen, eine offizielle Erklärung, in der ihr Bedauern und das Gedenken der Opfer zum Ausdruck kommt.

Die Teilnehmer der Versammlung glauben, dass die Besinnung auf die eigene Geschichte und dem Gedenken der Opfer, vergleichbaren Massakern in der Türkei entgegenwirkt. Gleichfalls sind die Teilnehmer der Versammlung davon überzeugt, dass ein solches Gedenken die demokratische Entwicklung einer friedlichen Gesellschaft fördert, welche die Menschenrechte respektiert.

Hintergründe für die Wahl des 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim von 1938:

Der Beschluss zur Ausrottung des Volkes aus Dersim, mit dem ein Exempel statuiert werden sollte, wurde am 4. Mai 1937 auf einer Sitzung des türkischen Ministerrats gefasst. Noch am selben Tag wurde das Gebiet von Dersim breitflächig bombardiert, wobei Hunderte Zivilisten – Frauen, Kinder und alte Männer – getötet wurden. Zehntausende wurden im Rahmen der annähernd zweijährigen Militäroperation ermordet. Weitere Zehntausende wurden in die Verbannung geschickt; Familien wurden zerrissen, die Menschen voneinander getrennt auf andere Dörfer, Bezirke und Provinzen verteilt. Im Rahmen der Tertele wurden die Führer Dersims ohne rechtliche Grundlage hingerichtet. Noch heute suchen ihre Nachfahren die Gräber ihrer Vorväter. Tausende Kinder wurden 1938 zur Adoption freigegeben oder in Waisenheime überstellt. Noch immer finden sich in den Zeitungen Suchanzeigen, in denen die Menschen nach ihren vermissten Verwandten forschen.

1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer der Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und nahen Verwandten kennenzulernen. Viel sind ohne ihre Brüder, Onkel und Tanten aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahen Verwandten aufwachsen zu müssen. Diese Gefühle lassen sich in ihrer Kausalität letztendlich nur von Gemeinschaften nachvollziehen, die einem ähnlichen Völkermord ausgesetzt waren.

Die Teilnehmer der Versammlung vom 6. März 2010, die einen breiten Teil der Gesellschaft Dersims vertreten, haben festgestellt, dass der Beschluss des türkischen Ministerrats vom 4. Mai 2010 der Auftakt für die Phase der endgültigen Vernichtung und Vertreibung war, weshalb dieses Datum historische Tragweite hat. Der Beschluss war eindeutig: Ein Volk sollte geplant und systematisch vernichtet werden, das seine eigenen Sprachen spricht, seine eigene Religion ausübt und eine eigene Kultur besitzt.

Unsere Epoche gilt als Zeitalter der Bewältigung der eigenen Geschichte und der Abbitte für begangene Fehler. Zivilisierte Länder sehen in anderen Sprachen, Religionen und Kulturen einen Reichtum, den es zu schützen gilt. Sie stellen sich ihrer historischen Realität und entschuldigen sich bei den Opfern für das begangene Unrecht.

Deutschland, welches sich immer noch dem Völkermord Hitlers an dem jüdischen Volk stellt; Italien, das für seine koloniale Vergangenheit von 1911 bis 1947 Libyen um Verzeihung bat; Spanien, das sich seiner Vergangenheit der mittelalterlichen Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel annimmt; Japan, das immer noch seine imperiale Politik vor dem II. Weltkrieg gegenüber den anderen asiatischen Völkern aufarbeitet; Australien, welches sich bei seinen Ureinwohnern für das an den Aborigines begangene Unrecht entschuldigte; oder Kanada und Amerika, die Ihre Ureinwohner für das an ihnen begangene Unrecht respektive für ihre Assimilationspolitik um Verzeihung baten, sind nur einige dieser Länder. Ganz zu schweigen von den baltischen Staaten, Rumänien und der Schweiz, die sich ihrer direkten oder indirekten Beihilfe an der Schoah annehmen, Historikerkommissionen einrichten und Abbitte leisten.

Die Bewältigung der eigenen Geschichte hat diese Staaten und ihre Gesellschaften nicht gedemütigt; im Gegenteil, sie trug ihnen großen Respekt ein. In diesen Ländern brach infolgedessen kein Sturm los; vielmehr wurden große Fortschritte auf dem Weg der gesellschaftlichen Aussöhnung respektive große Fortschritte gegen das Vergessen der vergangenen Tragödien erzielt. Dies führte zu neuen Möglichkeiten und eröffnete neue Wege. Nur wenn die Türkei sich der eigenen Vergangenheit stellt, wird sie ihren Platz in dieser würdigen Gemeinschaft finden können. Der Weg zum Frieden und zur Demokratie führt in der Türkei über die Bewältigung des vergangenen Leids.

Die Teilnehmer der Versammlung erwarten somit für die Vorkommnisse in den Jahren 1937 und 1938 eine offizielle Entschuldigung. Dies dürfte gegenüber den Opfern des Dersimer Massakers von 1938 und dem Leid ihrer Nachfahren nicht zu viel verlangt sein. Die Teilnehmer der Versammlung erwarten, dass den hingerichteten Führern Dersims, deren Menschrechte mit Füßen getreten wurden, ihre Würde wiedergegeben wird; im festen Glauben daran, dass dies die Voraussetzung für gesellschaftlichen Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit ist.

Trotz alledem hat das Volk von Dersim niemals auf Blutrache gesonnen. Dies würde der Nächstenliebe widersprechen, welche die Traditionen und die Kultur dieses Volkes lehren.

Auch diese Zeilen sind frei von jeglichem Gefühl der Rache. Sie sind vielmehr ein Aufruf zur Brüderlichkeit und zum gesellschaftlichen Frieden. Die Versammlung fordert deshalb den türkischen Staat zur Änderung seiner Politik auf, die die eigenen Bürger als „Bedrohung“ wahrnimmt. Der türkische Staat muss sich dem begangenen Unrecht stellen, wenn gesellschaftliche Aussöhnung und Frieden erreicht werden sollen. Das zwischen 1937 und 1938 in Dersim begangene Unrecht muss aufgearbeitet werden.

Hierfür bedarf es einer Regierung, die sich den historischen Fakten annimmt. Die Menschen in der Türkei verlangen nach einer Regierung, die die Aufarbeitung der eigenen Geschichte zur Ehrensache macht. Sie haben genug von Regierungen, die das Volk belügen bzw. die nachfolgenden Generationen mit Lügen nähren. Die massenhafte Tötung von Menschen im Namen des „Antiterrorkampfes“ und die politische Unkultur der Verleumdung und Lüge passen nicht zu diesem Land.

Der 4. Mai soll deshalb der Tag sein, an dem die Menschen aus Dersim für die Toten der Tertele beten, sowie Kerzen zu ihrem Gedenken entzündet werden. Die begangenen Massaker müssen Teil des öffentlichen Gedächtnis werden. Die Menschen aus Dersim müssen uneingeschränkt ihre Sprache sprechen, Kultur pflegen und Religion ausüben können.

Die Teilnehmer der Versammlung richten deshalb an den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan den offenen Aufruf, die schriftlichen Beweise – die er vorgibt zu besitzen – für die Vorkommnisse in Dersim zu veröffentlichen, die er als Massaker bezeichnet. Die Teilnehmer der Versammlung wollen die Worte des türkischen Ministerpräsidenten als einen Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame Zukunft ansehen. Denn sollten diese Worte aufrichtig gemeint sein und nicht allein als taktisches Mittel der Alltagspolitik dienen, dann muss Herr Erdogan bei der Wiederherstellung des Rechts behilflich sein. Auch der türkische Ministerpräsident weiß, dass die Unterschlagung von Beweisen eines Verbrechens strafbar ist. Statt diese Beweise als Druckmittel gegen seine politischen Gegner einzusetzen, sollte Herr Erdogan sie für die Aufklärung dieses Verbrechens einsetzen. Die Geheimarchive müssen geöffnet und das allseits Bekannte Gewissheit werden, damit die Türkei ihre Vergangenheit aufarbeiten kann. Die vorhanden Dokumente dürfen nicht länger zurückgehalten werden. Andernfalls werden die Menschen der Türkei weiterhin in der historischen Dunkelheit ihres Landes verharren. Der Dunkelheit ist genug. Es bedarf des Aufbruchs für ein gemeinsamen Morgen.

Die Versammlung fordert deshalb die Herren Minister- und Staatspräsidenten der Türkei dazu auf, am 4. Mai zusammen mit den Menschen aus Dersim an den Gedenkfeierlichkeiten der Tertele teilzunehmen, um ihre Trauer zu teilen. Die Versammlung fordert die Herren Minister- und Staatspräsidenten der Türkei dazu auf, sich vor dem Andenken an die Zehntausenden ermordeten unschuldigen Frauen, Kindern und alten Menschen zu verbeugen, indem sie den 4. Mai zum offiziellen Gedenktag der Tertele erklären.

Die Teilnehmer der Versammlung rufen darüber hinaus alle Menschen, die für Demokratie, Menschenrechte, Nächstenliebe und Gerechtigkeit eintreten, an diesem bitteren Tag an ihrer Seite zu stehen.

Hochachtungsvoll

  1. März 2010
  • Tertele: Die noch lebenden Überlebenden der Massaker in Dersim bezeichnen die Vorkommnisse von 1938 mit ‚Tertele’, den Tag, an dem die Welt unterging. Das Wort ‚Tertele’ ist mittlerweile in der Gesellschaft Dersims Teil des generationsübergreifenden Gedächtnisses geworden, das mittlerweile im Zusammenhang mit dem Genozid in Dersim gebräuchlich ist.

Der Völkermord von DERSIM 193738 (von Çağan Varol)

Der Völkermord von DERSIM 1937/38 (von Çağan Varol)
Inhalt

I. Einleitung 4

1. Die Dersim Diskussion 4

2. Der Premierminister entschuldigt sich 5

II. Hauptteil 6

1. Osmanische Verfolgungsgeschichte 6

2. Kontinuität in der staatlichen Minderheitenpolitik 7

3. Türkisierungspläne und –gesetze 8

a. Berichterstattung über Dersim 9

b. Gesetzgebung bezüglich Dersim 10

4. Endlösung 1937/38 11

a. Opferzahlen 13

5. Akteure, Instrumentalisierung, Trauma 14

III. Schlussteil: Rückkehr in das kollektive Bewusstsein 16

1. Oral History-Projekt Dersim 1937/ 38 16

2. Gerichtsverfahren und Forderungen 17

3. Aufarbeitung der Vergangenheit 19

Literaturverzeichnis

Bücher, Aufsätze und Vorträge:

Aslan, Herkesin Bildigi Sir Dersim, 1. Auflage 2010
Sükrü

Aygün, Dersim 38 – Resmiyet ve Hakikat, 1. Auflage 2010
Hüseyin Dersim 38 ve Zorunlu Iskan, 2. Auflage 2009

Bumke, Kizilbas-Kurden in Dersim, in Anthropos 74, 1979
Peter J. S. 530-548

Dersimi, Kürdistan Tarihinde Dersim, 2. Auflage 1990
Nuri

Kieser, Aleviten im Wandel der modernen Geschichte, Vortrag
Hans-Lukas vom 06.09.2001

Mihoyev, S.X. Kürdistan Tarihi, 1. Auflage 2001
Lazarev, M.S.

van Bruinessen, Scheich, Agha und Staat, 2. Auflage 2003
Martin

Zürcher, Modernlesen Türkiye Tarihi, 21. Auflage 2007
Erik Jan

Zeitungsartikel:

Aksam,
Interview mit Dr. Sükrü Aslan vom 04.12.2011

Bianet.org,
Artikel von A. Deman Güler vom 24.11.2011.

Birikim Dergisi,
Artikel von Ozan Deger vom 03.01.2010

Birgün,
Interview mit Haydar Karatas vom 28.11.2011
Artikel von Kamil Atesogullari vom 16.11.2009

Die Welt,
Artikel von Helga Hirsch vom 19.11.2011

Radikal,
Kolumne von Baskin Oran vom 27.11.2011
Kolumne von Oral Calislar 29.11.2011
Kolumne von Ayse Kadioglu vom 04.12.2011.

Star Gazetesi,
Artikel über Gülsün Bilgehan vom 26.11.2011.

Zaman,
Interview mit Hüseyin Aygün vom 10.11.2011
Artikel über Pressekonferenz von Haluk Koc 16.11.2011
Artikel über Rede des Ministerpräsidenten Erdogan vom 23.11.2011

I. Einleitung
Die Türkei ist ein Land voller Überraschungen. Zu einem Zeitpunkt als fast niemand mehr daran glaubte, brachte ein Streit zwischen CHP-Abgeordneten ein unrühmliches Kapitel der jungen türkischen Republik wieder ans Tageslicht. Den Völkermord von Dersim. Die Massaker, die im Verlauf des letzten als „Tedip“ und „Tenkil1“ Expedition bezeichneten Feldzugs von 1937/38 in Dersim stattfanden, wurden 74 Jahre lang seitens der kemalistischen Machtelite als Niederschlagung eines feudalen Agha2-Aufstandes legitimiert und verleugnet. Diese Staatslüge wurde durch den Premierminister Erdogan selbst vernichtet, indem er die stattgefundenen Massaker mit öffentlichen Dokumenten belegte und sich offiziell entschuldigte. Daraufhin folgte eine wochenlange Debatte in den Fernsehkanälen und Zeitungen der Republik. Heute scheint das mediale Interesse an Dersim wieder verflogen zu sein. Geblieben ist die Frage um die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Tatsache das Zehntausende, unschuldige Menschen, darunter unzählige Frauen und Kinder ihren Tod fanden sowie mindestens 14.000 Menschen zwangsumgesiedelt worden. Auch sind nicht längst alle Archive der türkischen Republik freigegeben. In diesen Archiven schlummern noch sehr viele Befunde damaliger Zeit, namentlich Fotografien, militärische Berichte und Befehle aus dem Jahre 1938. Zudem gibt es noch ein weiteres bedeutsames Archiv, nämlich das kollektive Gedächtnis der Opfer. Es sind noch einige hundert Zeugen und gleichzeitig Opfer von 1938 am Leben, die eine wichtige Erkenntnisquelle bilden. Beginnend mit den aktuellen Ereignissen in der Türkei behandelt dieser Bericht die Thematik um den Völkermord in Dersim in den Jahren 1937/38.

1. Die Dersim Diskussion
Es war der CHP3-Abgeordnete, Hüseyin Aygün, der die Dersim-Problematik an die Öffentlichkeit brachte. Seine Aussagen in der regierungsfreundlichen Tageszeitung Zaman vom 10.11.20114 über den Völkermord in Dersim im Jahre 1938 und die Schuld des Staates sowie der CHP als damals einzige Partei des Landes brachte ihm Ärger ein. Zwölf Abgeordnete seiner Fraktion forderten in einer Pressekonferenz ein Disziplinarverfahren gegen Aygün.5 Dort wurde ihm unter anderem vorgeworfen, die CHP in den Schmutz zu ziehen und den Republikgründer Atatürk als Organisator eines Massakers darzustellen und zu verunglimpfen. Auch dem aktuellen Parteichef der CHP, Kemal Kilicdaroglu, wurde vorgeworfen diesen Frevel zu dulden und zu tolerieren. Hüseyin Aygün stammt, wie Kilicdaroglu auch, aus der Region Dersim, der heutigen Provinz Tunceli. Er war dort als Rechtsanwalt tätig und ist ausgewiesener Experte über den Völkermord in Dersim. In der Zaman betonte er die Kollektivschuld der politischen Elite der türkischen Republik und verlangte eine kritische Auseinandersetzung mit den stattgefundenen Massakern. Den Republikgründer Atatürk benannte er vorsichtig nur als Mitwisser der gesamten Geschehnisse in den Jahren 1937/1938.

Das Thema „Dersim“ war auch im Jahre 2009 kurzzeitig in aller Munde als der langjährige Diplomat und Abgeordnete der CHP, Onur Öymen, während einer Abstimmung im Parlament über die Verlängerung des Einsatzes des türkischen Militärs im Nordirak gegen PKK-Stellungen meinte, man könne gegen Terroristen keine Milde zeigen, denn auch in Dersim hätten Mütter geweint und der Staat hätte trotzdem getan, was er habe tun müssen. Damit wurde schon mal ein CHP-Abgeordneter unfreiwillig der Auslöser einer polemischen Auseinandersetzung zwischen der AKP6 und der CHP über die Geschehnisse in Dersim in den Jahren 1937/38. Der damalige Parteichef der CHP, Deniz Baykal, stellte sich schützend hinter Onur Öymen. Auch in der aktuellen Debatte machte der jetzige Parteichef der CHP keine gute Figur. Kilicdaroglu rief die streitenden Abgeordneten zu Disziplin auf und erteilte beiden Seiten eine Schweigepflicht. Eine aktive Unterstützung zur Aufarbeitung des Völkermordes leistete er nicht beziehungsweise es fehlten ihm hierzu die Mehrheit in der eigenen Partei sowie der politische Mut.

2. Der Premierminister entschuldigt sich
Die fehlende Geschlossenheit der Oppositionspartei hinsichtlich der Dersim-Frage ließ sich der Premierminister Recep Tayyip Erdogan nicht entgehen und attackierte den CHP-Chef. Die CHP sei die Schuldige der damaligen Massaker in Dersim, sagte Erdogan. Schon im Jahre 2009 erklärte Erdogan in seiner Funktion als Premierminister, dass bis zu 50.000 unschuldige Menschen durch die Hände des Staates getötet wurden. Praktische Aktionen ließ er diesen Äußerungen nicht folgen. Gesetzesentwürfe von Abgeordneten aus Dersim lehnte die heute wie damals mit absoluter Mehrheit regierende AKP in Abstimmungen ab. Eine kritische wissenschaftliche Aufarbeitung fand auch nicht statt. Erst nach der zweiten Dersim-Debatte vor wenigen Wochen verlas Premierminister Erdogan am 23.11.2011 in einer Versammlung der AKP Regionalvorsitzenden mehrere amtliche Dokumente aus dem Archiv der Ministerpräsidenten über die Opferzahlen und die stattgefundenen Deportationen. Danach seien 13.806 Menschen umgebracht und weitere 13.600 in den Westen deportiert worden. „Ich rede nicht von den Opfern eines Erdbebens meine Herren, diese Menschen wurden umgebracht!“ waren seine Worte. Es kam auch zu einem bislang einmaligen Schritt in der Geschichte der türkischen Republik. „Soll ich mich entschuldigen oder du (Kilicdaroglu). Falls es so was wie eine Entschuldigung im Namen des Staates gibt,….so entschuldige ich mich hiermit.“7 Auch wenn die gezeigten Dokumente alle vorher bekannt waren und die Entschuldigung Erdogans für viele nur halbherzig klang, wurden die Worte des Premierministers in der Öffentlichkeit und den Medien dennoch mit großer Resonanz aufgenommen. Auch wenn die Zurschaustellung der CHP die eigentliche Triebfeder Erdogans zu sein scheint, ist der Tabubruch als gewaltig anzusehen. Der Ruf nach Öffnung aller Staatsarchive, einschließlich die bisher nicht veröffentlichen Archive der Militärführung, ist unüberhörbar. Von der Freigabe der Archive der Militärführung für Wissenschaftler erhofft man sich mehr Informationen über das Vorgehen und die Auswahl der Truppen sowie dem Verbleib von Hunderten vermisster Frauen und Kinder.8 Auch der Staatspräsident, Abdullah Gül, sprach sich für eine Freigabe aller Staatsarchive aus. Ein großer Staat wie die Türkei brauche sich nicht zu fürchten und könne auch Fehler eingestehen, sagte Gül.

Der CHP-Chef Kilicdaroglu warnte indes vor der Gefahr eines Bürgerkrieges und verlangte vom Premierminister Taten statt Worte. In den Augen vieler hat er die Möglichkeit einer Aufarbeitung eher behindert als befeuert. Die Eigenorganisationen der Menschen aus Dersim darunter vor allem die FDG9 fordern schon seit Jahren eine Aufklärung des Völkermordes in Dersim. Die Forderungen der FDG fanden aber nun erstmalig in den Mainstreammedien Widerhall und konnten so an die Öffentlichkeit gebracht werden. Es besteht diesmal die Hoffnung, dass die Geschehnisse in Dersim 1938 nicht so leicht wieder unter den Teppich gekehrt werden, wie es im Jahre 2009 der Fall war, und eine Phase der Vergangenheitsaufarbeitung eingeleitet wird.

II. Hauptteil
Um die heutige Diskussion besser mitverfolgen zu können, ist es erforderlich, den politischen Charakter der Dersim Region sowie deren historische Rolle im Machtgefüge innerhalb der türkisch-osmanischen Oberhoheit kurz zu skizzieren. Die Reihenfolge der Geschehnisse im Vorfeld und Verlauf der Strafexpedition von 1937/1938, die dazu führten, dass Zehntausende Menschen ihr Leben ließen und weitere Zehntausende deportiert, inhaftiert und verletzt wurden, sollen auch näher beleuchtet werden.

1. Osmanische Verfolgungsgeschichte
Die Region Dersim, die nur zu einem Teil in den heutigen Grenzen der Provinz Tunceli im Jahre 1935 nach dem „Tunceli-Gesetz“ zusammengefasst wurde, verfügt schon seit Jahrhunderten über eine besondere gesellschaftliche, ethnische sowie religiöse Struktur. Die Bevölkerung besteht damals wie heute zu fast neunzig Prozent aus Aleviten, die im Laufe von Jahrhunderten in dieses Gebiet einwanderten oder vor Repressionen flüchteten. Bis zum Armeniergenozid im Jahre 1915 lebten auch sehr viele Armenier in Dersim, die zumeist in einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis zu den Aleviten standen. Die Aleviten in Dersim sind hierarchisch in ein Kastensystem eingebunden in der die religiös legitimierte Kaste (Ocakfamilien), den ihn zu geteilten Stämmen die religiöse Unterweisung und Führung zukommen lässt. Aleviten lehnen die orthodoxe, dogmatische Sicht des Islams sowie deren Glaubensstätten (Moscheen) und Religionsführer (Seyhulislam, Kadi, Müftü, Hoca) ab. Vielmehr spielt u.a. die Geschlechtergleichheit, die Imam Ali-Verehrung sowie die Einheit von Mensch, Natur und Gott und der Reinkarnationsglaube eine entscheidende Rolle. Weiter werden in den religiösen Versammlungen in den Cem-Häusern alevitische Lieder rezitiert und dazu Tänze aufgeführt. Daher werden sie seit Jahrhunderten als Häretiker stigmatisiert und marginalisiert.10

Die verschiedenen alevitischen Clans, die gemeinsam die Stammeskonföderation von Dersim bildeten, verfügten jeweils über ein Clan-Gebiet in der die stammesangehörigen Familien vom einfachen Ackerbau und von der Viehzucht lebten und sich bei Gefahr zusammenschlossen, um Gefahren durch die Obrigkeit abzuwehren. Ein Großgrundbesitzertum, wie im Rest Ostanatoliens und Kurdistans, existierte in Dersim nicht. Die Menschen lebten in einem einfachen kommunalen System, in der eigentlich für den Ackerbau ungeeigneten Topographie Dersims zumeist auch in bitterer Armut.

Die Region Dersim bildete aufgrund dieser Besonderheiten bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine de-facto autonome, alevitische Enklave innerhalb des osmanischen Reiches und konnte sich so gut es geht, auch aufgrund des staatlichen Vakuums in vielen abgelegenen Gebieten des Reiches, der Steuerpflicht und des damals lange Jahre andauernden Militärdienstes entziehen. Auch aufgrund der bergigen und bewaldeten Geographie Dersims blieben viele Strafexpeditionen unter den Osmanen in dieser Region ohne große Folgen und konnten die gesellschaftliche Struktur nicht zerstören.

Der Hass der Osmanen gegen dieses Widerstandsnest geht zurück auf das frühe 16. Jahrhundert, als die Osmanen mit den Safewiden11 im Iran im Krieg lagen. Die alevitische Bevölkerung Anatoliens, auch „Kizilbas“12 genannt, unterstützte mehrheitlich die Safewiden, die damals einer schiitisch-heterodoxen Islamausprägung anhingen und somit dem alevitischen Glauben sehr nahe kamen. Als mit der Schlacht von Van/Caldiran im Jahre 1514 die Safewiden besiegt wurden und sich aus Ostanatolien bis auf die heutigen Grenzen des Iran zurückziehen mussten, wurden die Aleviten zur Strafe systematisch von den Osmanen verfolgt und in entlegene Bergregionen zurückgedrängt. Durch „fetwas“ (d.h. religiöse Urteile) wurden die Aleviten aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt und gar ihre Tötung als straffreier, religiös gewünschter Akt gesetzlich manifestiert. Auch der Inzestvorwurf findet in dieser Zeit seinen Ursprung und sollte die Isolation der Aleviten verfestigen. Bei der Hetzjagd Yavuz Sultan Selims auf die Aleviten (Kizilbas) im Laufe der Konfrontation mit den Safewiden sollen ca. 40.000 Aleviten hingerichtet worden sein.13 Nachdem die Bektaschiye14 in Haci Bektas als religiöse Zentralinstanz des türkischen Alevitentums mit den Osmanen unter Selim kollaborierte, bildete sich in Dersim das Zentrum des Ostalevitentums heraus.15 Dersim wurde aufgrund dessen Opfer von Bestrafungsaktionen der Osmanen. Als Handlanger dieser Politik des Osmanenherrschers Selim fungierten vielerorts die anti-alevitisch gesinnten schafitischen Regionalfürsten und deren Stämme, allen voran der Fürst von Bitlis, Idrîs Bitlis-i. Die Region Dersim konnte sich aber während der ganzen Osmanenzeit behaupten und die dortigen Stämme gaben vielen Verfolgten Unterschlupf.

2. Kontinuität in der staatlichen Minderheitenpolitik
Zwar gelang es den Osmanen Dersim als osmanisches „Sancak“16 wenigstens auf der Landkarte in die bürokratische Struktur einzuverleiben, aber der dortige Staatsapparat konnte sich aufgrund der fehlenden Akzeptanz nie richtig etablieren.17 Um die nicht bezahlten Steuern einzutreiben schickten die osmanischen Herrscher immer wieder Bestrafungstrupps nach Dersim, die Felder in Brand setzten und der Bevölkerung ihr Vieh wegnahmen. Die Stämme rächten sich nach Abzug der osmanischen Truppen mit Raubzügen im Umland und holten so zum Teil ihr Vieh wieder. Bis zur Absetzung des letzten osmanischen Sultans, Abdülhamit dem Zweiten, durch die „Ittihadisten“18 im Jahre 1908 und weiter noch vom Beginn des türkischen Befreiungskampfes bis hin zur Republikgründung 1923 änderte sich die Stellung Dersims nicht wesentlich. Die Bestrafungspolitik der Osmanen gegenüber jeglichen Minderheiten alevitischer, armenischer oder kurdischer Herkunft wurde von den Jungtürken weiter fortgesetzt. Als im Jahre 1921 in Kocgiri-Sivas eine Revolte von kurdischen Aleviten gegen das Regime losbrach, wurden in einer militärischen Befriedungsaktion dutzende Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und tausende Menschen fanden ihren Tod. Aufgrund der Verwandtschaft der alevitischen Kocgiri-Stämme mit den Stämmen in Dersim fanden viele dort Unterschlupf, was zweifellos der politischen Führung missfiel. Man muss hinzufügen, dass die als Staatsfeinde angesehenen Armenier und die Aleviten in Dersim über gute Kontakte verfügten. Im Jahre 1915 konnten ca. 20.000 Armenier aus Harput mit Hilfe der Stämme von Dersim ihr Leben retten, indem sie über das Dersim-Gebiet in das damals von russischen Truppen besetzte Erzincan eskortiert wurden.19

Die Republikgründung von 1923 wurde von vielen Aleviten, auch denen in Dersim, zunächst als Befreiung vom Osmanischen Joch empfunden. Dies wurde durch die Abschaffung des Kalifats und der Schariagerichtshöfe 1924 durch Atatürk noch verstärkt. Die Zeit der Verfolgung als „Outlaws“ und die religiöse Stigmatisierung sahen viele Aleviten endlich als beendet an und akzeptierten sogar das indirekte Verbot ihrer Religion durch das „Tekke und Zaviye“ Gesetz von 1925 stillschweigend.20 Durch dieses Gesetz, welches als Folge des Seyh Sait Aufstandes erlassen wurde, deren Führer dem sunnitischen Nakschibendi-Orden angehörten, wurden alle von Aleviten und Bektaschiten genutzten Gebetsstätten sowie fast alle religiösen Titel verboten und mit Scharlatanismus gleichgesetzt.21 Das Verbot traf auch das Zentrum des Westalevitentums in Hacibektas. Das dortige religiöse Zentrum wurde den Bektaschiten entrissen und in ein Museum verwandelt, was es noch heute ist. Dieses widerspruchslose Dulden seitens der Aleviten machte sich aber nicht bezahlt. Nach der Niederschlagung der bis dahin größten Rebellion von sunnitischen Zaza in Bingöl und Diyarbakir unter Scheich Said, der sich im Jahre 1925 nach der Abschaffung des Kalifats gegen die türkische Republik erhob, gerieten, wie man aus offiziellen Dokumenten in Erfahrung bringen kann, vermehrt die Dersim-Stämme in das Blickfeld der türkischen Nationalisten. Man muss aber betonen, dass sich die in der Aufstandsregion lebenden alevitischen Stämme „Lolan“ und „Xormekan“ aufgrund der religiösen Unterschiede nicht an der Rebellion beteiligten, sondern gegen die als Gefahr empfundenen sunnitischen Seyh Said Anhänger an der Seite der türkischen Armee kämpften.22 Die Dersim-Stämme wurden aufgrund dieses Verhaltens in der Hauptstadt Ankara im Jahre 1926 mit Ehren empfangen und ausgezeichnet.23 Auch während des türkisch-russischen Krieges 1916-1918 verteidigten die Dersim-Stämme ihr eigenes Territorium und indirekt das türkische Regime gegen die bis nach Erzincan vorgestoßenen Russen. Einige Stammesführer wurden dafür mit Orden ausgezeichnet. Sowohl die russische Invasion als auch der Seyh Sait Aufstand kamen dem Dersim-Gebiet gefährlich nahe, wobei der religiös geleitete Seyh Sait Aufstand von den Aleviten als Existenzbedrohung angesehen wurde.24 Dersim war daher keine feindliche Macht, die die junge türkische Republik bedrohte, sondern eher eine die eigene Autonomie verteidigende den Reformen Atatürks wohlgesinnte Stammesvereinigung.

3. Türkisierungspläne und -gesetze
Die Elite der türkische Republik verfolgte aber, vor dem Hintergrund des Verlustes des Balkanterritoriums und der arabischen Halbinsel in der letzten Periode des osmanischen Reiches, in ideologischer Anlehnung an die Ittihadisten eine gezielte Türkisierungspolitik aller nichttürkischen Völker in den Ostgebieten25 und stand jeglicher Autonomie daher feindlich gegenüber. Das übriggebliebene anatolische Kernland sollte erhalten bleiben und in der Staatsform eines türkischen, laizistischen Nationalstaates reorganisiert werden. Da das armenische Problem seit 1915 gelöst war und auch die christlichen Griechen nach Griechenland deportiert worden waren, blieben nur noch die aufsässigen Kurden und das quasi autonome Dersim übrig. Für die Kemalisten galt trotz der ethnischen Heterogenität Dersims die Region als „kurdisches“ Widerstandsnest mit dem weiteren Makel, dass Dersim eine alevitische Hochburg im ansonsten homogen sunnitischen Ostanatolien darstellte. Hans-Lukas Kieser spricht von einer doppelten Stigmatisierung, wodurch die Militäraktionen von 1938 erst zum Vernichtungsfeldzug ausarteten.26

Das Hauptbeweisdokument dieser minderheiten-feindlichen Staatsdoktrin stellt der „Sark-Islahat“27 Plan von 1925 dar. Darin war die Aufteilung der Ostgebiete in fünf Inspektorate und die Deportation von Teilen der kurdischen Bevölkerung in den Westen und die Ansiedlung von muslimischen Einwanderern aus dem Balkan und dem Kaukasus in die früher von Armeniern bewohnten Gebiete vorgesehen. Dieser Plan stellt den ideologischen Grundpfeiler der türkischen Assimilationspolitik dar und enthielt auch besondere Regelungen für Dersim. Speziell für Dersim wurde die Errichtung von Mädcheninternaten vorgeschlagen und Teile der Bevölkerung sollten ins benachbarte Sivas überführt werden. Die Internate sollten die Assimilierung der weiblichen Bevölkerung vorantreiben, was besonders nach 1938 ausgeweitet wurde während mit der Ansiedlung in Sivas die Entvölkerung des Dersim- Stammlandes bezweckt wurde. Weiter wurde in dem Plan verfügt, dass die als gefährlich eingestuften Familien in den Westen deportiert werden sollten und im Gegenzug nur die regimefreundlichen Familien bleiben durften. In den Inspektoraten galt das Notstandsrecht fort. Für die Verwaltung der Gebiete wurden zudem Gouverneure mit militärischen Befugnissen eingesetzt (sog. ummumi müfettis). Das öffentliche Sprechen der kurdischen Sprache sollte aus Gründen der Vermeidung der Kurdisierung der türkischen Bevölkerung unterbunden werden. Der Sark-Islahat Plan steht somit für die deutliche Abkehr von den Autonomieversprechungen der Nationalisten während des türkischen Unabhängigkeitskrieges.28

a. Berichterstattung über Dersim
Die besondere Situation Dersims war bereits im osmanischen Reich Anlass zur Berichterstattung über das Vorgehen und die Möglichkeiten der Befriedung des Gebietes. Viele Punkte des Sark-Islahat Plans finden sich auch in diesen Berichten. Der erste Bericht ist auf das Jahr 1896 datiert und von Zeki Pascha verfasst worden. Zeki Pascha schlug vor, die Stämme, die sich den Osmanen widersetzten, durch zwangsweise Aussiedlungsaktionen in den Yemen oder nach Lybien zu bestrafen und zeitweise das Notstandsrecht auszurufen.29 Ein weiterer Bericht von 1899 von Sakir Pascha bezieht sich auch auf die Religion der Dersim-Stämme. Er schlug vor (dieser Vorschlag findet sich auch im ersten Bericht von 1896 wieder) den Nakschibendi-Orden in Dersim zu installieren, um die dortigen Aleviten zu assimilieren.30

Auch die türkische Republik fertigte viele Berichte an, die heute Licht in das Dunkel der Massaker von 1938 bringen. Der Bericht vom Verwaltungsinspektor Hamdi Bey aus dem Jahre 1926, der vom Innenministerium speziell nach Dersim entsandt worden war, hält eine endgültige Befriedung nur mit Waffengewalt für aussichtsreich. Die Vorstellung die Bewohner Dersims durch Schulen, Straßen, Fabriken und Zivilisationsmaßnahmen zu erziehen, sei nichts weiter als ein Hirngespinst. Dersim sei vielmehr eine „Eiterbeule“ die nur durch ihre vollständige „Wegoperierung“ zu heilen sei, schrieb Hamdi Bey.31 Hamdi Beys Äußerungen von der „Eiterbeule“ benutzte später auch der Innenminister Sükrü Kaya in einer Rede.32

Es gab aber auch in der Republik Beamte, die ein sanftes Vorgehen vorschlugen. Der Gouverneur von Diyarbakir, Cemal Bardakci, schrieb in seinem Bericht, dass die durch Provokationen mancher Beamter und durch die schlechte Behandlung seitens der sunnitischen Bevölkerung entstandenen Unruhen durch eine rationale Politik schnell zu einem Ende kommen würden. Um Leib und Leben zu schützen, so Bardakci, mussten sich die Bewohner bewaffnen. Er hält jedoch auch an dem Deportationsgedanken fest, und schlägt die Aussiedlung der Agha Familien nach Malatya und Elazig vor.33. Cemal Bardakci wurde 1931 nach Konya in Zentralanatolien versetzt, was ein Zeichen dafür ist, dass seine Thesen keinen Anklang gefunden haben. Der Bericht von Hamdi Bey hatte sich dagegen in der Staatselite durchgesetzt.

Ein weiterer wichtiger Bericht der die damalige Gesinnung wiedespiegelt und die Ausführungen von Hamdi Bey vervollständigte, war der von Fevzi Cakmak. Der spätere Generalstabschef in der Dersim-Offensive 1938, Fevzi Cakmak , war in seinem Bericht von 1930 für eine endgültige militärische Befriedung der Dersim-Region. Die Menschen in Dersim könnten nicht durch Sanftmut gewonnen werden. Dersim sei vielmehr als Kolonie zu betrachten und daher wie eine solche zu führen. Die Menschen sollten bis nach Thrakien in türkische Taldörfer verteilt und unter Polizeibewachung gestellt werden. Eine Rückkehr nach Dersim durfte nicht mehr erfolgen.34

Das Dersim-Problem war in den Augen der Machtelite alles in allem nicht nur ein aktuelles Sicherheitsproblem, dem man mit Gewalt Herr werden wollte, sondern deren Widerstandsgeschichte und die Unbeugsamkeit der Bewohner erregte deren Zorn besonders. Als Mittel sollten daher Assimilation, Zwangsaussiedlung und militärische Gewalt bis hin zur Vernichtung der Bevölkerung zur Anwendung kommen.

b. Gesetzgebung bezüglich Dersim
Vor allem in den Gesetzen dieser Zeit findet man die wichtigsten Maßnahmen zusammengefasst wieder. Die wichtigsten davon sind das „Iskan“(Ansiedlungs-) Gesetz von 193435 und das „Tunceli-Gesetz“ von 193536. Das Ansiedlungsgesetz von 1934 ist deshalb so besonders, weil es nach 1938 in Dersim zur Anwendung kam. Das Staatsgebiet wurde im Gesetz in drei Zonen aufgeteilt. Mit Zone 3 waren die Gebiete gemeint, die entweder Militärgebiet waren, eine besondere politische Bedeutung hatten oder ein Sicherheitsproblem darstellten. Dersim befand sich als Sicherheitsproblem somit in Zone 3 und war für die Besiedlung gesperrt. Die Bevölkerung dieser Zone sollte in die Zonen 1 und 2 überführt werden und nie wieder in ihre angestammte Heimat zurückkehren. Die nichttürkische Bevölkerungsquote durfte innerhalb der türkischen Provinzen nicht über 10 Prozent betragen und sollte so gut wie möglich verstreut werden. Eine andere Bestimmung dieses Gesetz besagt, dass die Deportierten das unbewegliche Vermögen, das sie in ihrer Heimat besessen hatten, im Ansiedlungsgebiet gestellt bekommen sollten. Nach 1937 als die große Zwangsaussiedlungswelle begann, wurde dieses Gesetz in Dersim zu Grunde gelegt. Das Ansiedlungsgesetz von 1934 ist heute immer noch das gültige Ansiedlungsgesetz der Türkei.

Das wichtigste im Jahre 1935 erlassene Gesetz ist das „Tunceli-Gesetz“. Der Name Dersims wurde darin in Tunceli geändert, was soviel heißen soll wie „Bronzene Hand oder auch Bronzenes Land“. In dem Gesetz wurde Dersim im 4. Inspektorat zusammengefasst, und ein Inspektor mit hoheitlichen, militärischen und staatsanwaltlichen Befugnissen eingesetzt, der die Macht der Exekutive, Legislative und Judikative in sich bündeln konnte. Der Inspektor konnte insbesondere Todesstrafen ohne parlamentarische Absegnung ausführen lassen sowie die Deportation von Menschen beschließen. Die Berufung gegen ein Todesurteil wurde durch dieses Gesetz abgeschafft und die Anklage wurde den Angeklagten nicht mitgeteilt. Eine Verteidigung war nur innerhalb von zwei Tagen möglich. Der türkische Staat setzte in Dersim seine eigene Verfassung außer Kraft. Der Verweis eines Abgeordneten auf die Verfassung in Bezug auf die Todesstrafe fand keine Beachtung und wurde mit den besonderen Zuständen in Dersim gerechtfertigt.37 Innenminister Sükrü Aslan sagte hierzu: “Obwohl der Rest des Landes sich in Disziplin befindet, macht uns die Situation in Dersim schwer zu schaffen. Wir müssen definitiv Vorkehrungen treffen.“38 Das öffentliche Inspektorat in Dersim ist die Realisierung der Kolonialpläne von Generalstabschef Fevzi Cakmak, der die Behandlung Dersims als Kolonie vorschlug. Als Inspektor wurde General Abdullah Alpdogan eingesetzt, der bereits bei der blutigen Befriedung des Kocgiri-Gebietes im Einsatz war und der damals schon für einen Einmarsch in Dersim appellierte.39 Dieses Gesetz blieb bis 1946 in Kraft.

Der entscheidende juristische Schritt für die Endlösung des Dersim-Problems wurde am 04. Mai 1937 in der geheimen Sitzung des Ministerrats getan. Der daraus hervorgegangene Beschluss des Ministerrates mit den Unterschriften von Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk und Premierminister Ismet Inönü markiert den Beginn des letzten staatlichen Vernichtungsfeldzuges gegen Dersim und des größten Völkermordes in der Geschichte der türkischen Republik. Die Deportation von zunächst 2.000 Menschen und die Verfügung von Sperrzonen wurden in diesem Beschluss angeordnet. Am 06. August 1938 wurde der Ministerratsbeschluss erweitert und die Deportation von weiteren 5.000-7.000 Menschen in den Westen der Türkei beschlossen. Auch Dörfer außerhalb der Sperrzonen wurden zerstört und deren Bewohner deportiert. Der Jahrestag der Ministerratsentscheidung vom 04. Mai 1937 wird von den Organisationen der Bevölkerung von Dersim als Beginn der Offensive angesehen und wird als Erinnerungstag für den Dersim Genozid in Europa und in der Türkei wach gehalten.

3. Die „Endlösung“ Dersim 1937/1938
Die am 4. Mai 1937 angeordnete Strafexpedition gegen Dersim teilte sich in zwei Phasen auf. Die erste Phase begann nach dem Ministerratsbeschluss vom 4. Mai 1937 und endete am 15. November 1937 mit der Erhängung von sieben Stammesführern und alevitischen Geistlichen in Elazig. Besonders Seyyit40 Riza, der Anführer des Abbasan-Clans, wurde als „Sündenbock“ auserkoren und diente der türkischen Republik als Anführer eines separatistischen Aufstandes, den es eigentlich nicht gab.41 Um die Pläne der Regierung zu durchkreuzen und um die Zivilbevölkerung zu schützen, stellte er sich an der Grenze zu Erzincan den türkischen Truppen. Insgesamt 58 Personen wurde am „Tunceli Gerichtshof“ in Elazig „kurzer Prozess“ gemacht. Der damals ca. 75-jährige Seyyit Riza der gesetzlich gesehen zu alt für die Todesstrafe war, wurde mit gefälschten Gutachten verjüngt, sein minderjähriger Sohn wurde dagegen für volljährig erklärt, um die verhängte Todesstrafe vollziehen zu können.42 Insgesamt sieben Stammesführer, darunter der Sohn Seyyit Rizas, wurden erhängt und 37 weitere wurden zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Informationen bezog die Öffentlichkeit über die Erzählungen und Memoiren des Polizeichefs von Malatya, Ihsan Sabri Caglayangil, der 1937 nach Dersim beordert wurde, um die Vollziehung der Todesstrafen durchzuführen. Er sollte später Außenminister der Türkei werden. Er gab auch die letzen Worte von Seyyit Riza wieder: “Wir sind die Nachkommen Kerbelas43, wir sind ohne Schuld, es ist eine Schande, es ist eine Tyrannei, ein Mord.“ Danach stieß Seyyit Riza den Zigeuner weg, der die Todesstrafe vollstrecken sollte, legte sich eigenhändig den Strick um den Hals und vollstreckte die Todesstrafe selbst. Caglayangil war beeindruckt von der Tapferkeit dieses alten Mannes, wie er selbst schrieb.

Die „Rebellionslüge“ wurde in die Welt gesetzt, um die ausgearbeiteten Assimilations- und Deportationspläne in die Tat umzusetzen, die die politische Elite so befürwortete. In der türkischen Geschichtsdeutung werden als Beweise für eine Rebellion die Inbrandsetzung einer Holzbrücke in Zentraldersim und die anschließenden Gefechte mit Soldaten im März 1937 genannt. Die Vorfälle vom März 1937 dienten als geeigneter Vorwand zur Invasion Dersims durch türkische Truppen, die die Militärführung bereits Jahre vorher rund um Dersim stationiert hatte. Die Dörfer Dersims wurden von der Luft aus bombardiert und vom Land aus griffen Soldaten Verstecke der Zivilbevölkerung an. Selbst die Adoptivtochter Atatürks, Sabiha Gökcen, die als erste Kampfpilotin der Türkei bezeichnet wird, war an den Luftangriffen auf zivile Ziele beteiligt. Genaue Opferzahlen sind nicht bekannt aber die Überlebenden sprechen von mehreren Tausend getöteten Unschuldigen. Von Caglayangil stammt auch die Information über den Gebrauch von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung, die sich in Höhlen zurückgezogen hatte. Man habe die Dersim-Kurden egal welchen Alters wie Mäuse vergiftet, sagte er in einem Interview. „Es wurde eine blutige Expedition.“44 Der spätere Oberkommandant der türkische Luftwaffe, Muhsin Batur, hüllt sich über seinen mehrmonatigen Spezialeinsatz als Soldat in Dersim im Jahre 1937 in Schweigen. In seinen Memoiren bittet er die Leser um Verzeihung, weil er über diesen Teil seines Lebens besser nicht berichten wolle.

Die Invasion geschah aber auch in einer Zeit als die Region Dersim schon seit Jahren als befriedetes Gebiet galt. Die Vorkommnisse lagen nach Statistiken des regionalen Inspektorats im Jahre 1936 bei quasi null.45 Weiter wurden bereits im Vorfeld der Aktion von 1937 bis zu 7.880 Gewehre seitens des Staates von den Dersim-Stämmen eingesammelt, die diese vom türkischen Staat erhalten hatten, um gegen die russische Armee zu kämpfen. Es gab Straßen, Kasernen und Schulen in Dersim. An einer Rebellion hatte die Bevölkerung daher überhaupt kein Interesse. Die türkischen Jakobiner konnten aber aufgrund ihres Militarismus und ihrer Ungeduld die endgültige Unterwerfung Dersims nicht länger abwarten.46 Die Irrationalität des staatlichen Vorgehens wird im Lichte der weiteren Vorkommnisse aber noch viel deutlicher. Der zur ersten Phase der Feldzuges amtierende Ministerpräsident, Ismet Inönü, erklärte in seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments am 18.09.1937, das nach der Verhaftung von 849 Personen darunter aller Stammesführer und der Tötung von 265 Rebellen (die getöteten Zivilisten zählt er nicht mit), dass das Dersim-Problem endgültig beendet sei. Inönü sah im Anschluss an die militärische Befriedung in der Folgezeit nur noch Infrastrukturmaßnahmen für Dersim als notwendig an.47 Dass das Dersim-Problem nicht ad acta gelegt wurde beweist die anschließende Absetzung Inönüs und der Beginn der militärischen Offensive von 1938. Ismet Inönü wurde am 25.10.1937 des Amtes enthoben und Celal Bayar von Atatürk zum Ministerpräsidenten auserkoren, der die Aktionen von 1938 dann auch leitete. Um die Absetzung Inönüs ranken sich einige Theorien. Die glaubwürdigste besagt, die von Celal Bayar selbst stammt, besagt, dass der Staatsführer Atatürk ein weitergehendes Vorgehen in Dersim wünschte, und es zu einem Zwist zwischen Inönü und Atatürk über die Fortsetzung der Dersim-Offensive kam. Atatürk hielt anscheinend Bayar für geeigneter und setzte daher diesen als Ministerpräsidenten ein.48

a. Opferzahlen
Die Invasion mit den verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung und den größten Verlusten von Menschenleben wurde am 11.06.1938 eingeläutet und dauerte bis zum 31.08.1938 fort. Die Tötungen vollzogen sich in drei Schüben, von denen der letzte Schub 17 Tage dauerte und allein in dieser Aktion nach amtlichen Dokumenten ca. 8.000 Menschen starben. Dabei wurden aber nur ca. 1.000 Gewehre sichergestellt.49 Weiter wurden in der ersten Deportationswelle nach dem Ministerratsbeschluss vom 4. Mai 1937 erst 2.000 Menschen, später im August 1938 bis zu 7.000 Menschen zusätzlich gefangengenommen und deportiert. In beiden Invasionsphasen von Mai 1937 bis September 1938 wurden nach amtlichen Dokumenten insgesamt 13.100 Menschen getötet und insgesamt 7.000-12.000 Menschen deportiert.50 Wobei im Jahr 1937 nach offiziellen Angaben nur von 265 getöteten Rebellen die Rede ist und der Rest der Getöteten sich auf das Jahr 1938 verteilt. Demnach sind allein in den drei Monaten des Feldzugs im Jahr 1938 ca. 13.000 Menschen offiziell umgebracht worden. Nicht von der Hand gewiesen werden kann daher, dass es sich um ethnische Säuberungen gehandelt hat. Die Zahl der getöteten Soldaten lag im Vergleich dazu bei wenigen Hundert. Ein bewaffneter Aufstand hätte definitiv tausende Soldatenleben gekostet. Viele der Dorfbewohner waren zur Zeit der Invasionen ganz im Gegenteil in ihren Dörfern verblieben und machten sich keinerlei Sorgen, da insgesamt nur sechs Stämme für die Unruhen verantwortlich gemacht wurden und diese bereits 1937 „gezüchtigt“ worden waren. Die Soldaten gingen aber auch gegen diese restlichen Stämme vor und vernichteten ganze Dörfer mitsamt der Bevölkerung. Vor allem die Dörfer der Seyyitfamilien sowie Dedes und Pirs51 wurden besonders verfolgt und deren Bevölkerung ausgelöscht. Das Ziel war es, die alevitischen Geistlichen zu bestrafen und das Ocak-System zu zerstören, das Dersim unter den Osmanen so lange zusammenhielt.52

Premierminister Erdogan berief sich in seiner Rede vom 23.11.2011 auf ähnliche Zahlen (13.806 Tote und 13.600 Deportierte) die er aus seinem eigenen Premierminister-Archiv bezog und sprach ganz offen von Massakern an der Zivilbevölkerung. Hinsichtlich der Opferzahlen gehen die Zahlen der Bevölkerung aber weit auseinander. Bei einer Einwohnerzahl Dersims nach der Einwohnerzählung 1935 von etwas über 100.000 Bewohnern kommen Experten auf mindestens 30.000 bis 50.000 Tote.53 Selbst vor Frauen und Kindern wurde beim Morden kein Halt gemacht. Von Necip Fazil Kisakürek, Lyriker und Ideologe der türkischen Rechten, der als Soldat in Dersim 1938 diente, erfuhren konservative Kreise erstmals mehr über die Massaker in Dersim. Kisakürek war Zeuge der Tötung von 75 Zivilisten in der Region Hozat, die bei lebendigem Leib in einer Scheune verbrannt wurden. Nach seiner Schilderung starben weit mehr als 50.000 Menschen in Dersim.54 Nach weiteren Augenzeugenberichten schwammen die Leichen der Getöteten auf dem Fluss Munzur, der sich durch das Blut tagelang rot färbte. Viele der Dorfbewohner, vor allem die in den entlegenen Bergdörfern, waren außerdem zu der Zeit nicht in den Einwohnermelderegistern eingetragen und flossen daher auch nicht in die amtliche Todesstatistik mit ein. Zudem sprechen die Zeugen, die im Kindesalter die Massentötungen aus Verstecken heraus beobachten konnten oder verletzt überlebten, von der Entsorgung der Leichen in Flüssen oder von der Verbrennung der Leichname. Daher kann den offiziellen Zahlen nur bedingt Glauben geschenkt werden. Auch die Verschiebungen hinsichtlich der Anzahl der Siedlungen innerhalb Dersims sind bedeutsam. Die offizielle Bevölkerungsstatistik von 1935 spricht von damals 525 Siedlungen in Dersim, im Jahre 1940 werden aber nur noch 373 Dörfer aufgezählt. Insgesamt 134 Dörfer wurden demnach ohne Erklärung seitens der Behörden aus der Statistik entfernt.55

Hinzu kommen noch andere Opfer der Massenmorde, wie die Hunderten Mädchen, die von Soldaten adoptiert und weggeschafft worden waren und über die bis heute keine genauen Informationen vorliegen. Einige Mädchen hatten es im Nachhinein über die Hilfe ihrer Adoptiveltern oder über die Recherchen ihrer eigentlichen Verwandten geschafft ihre richtigen Familien wiederzufinden.56 Zudem gibt es keine genauen Informationen über die Zwangsumgesiedelten und deren erlittenes Leid. Nach September 1938 wurde die Massentötungen eingestellt und mit den Massendeportationen von über 12.000 Menschen in den Westen der Türkei begonnen.57 Die Menschen wurden jeweils in Vierer-Gruppen aufgeteilt und in Dörfer westlich von Kayseri verstreut, genauso wie im „Iskan-Gesetz“ von 1934 beschlossen wurde. Die Deportierten durften erst nach 1948 wieder nach Dersim zurückkehren. Viele Familien wurden voneinander getrennt und über das ganze Staatsgebiet verteilt. Manche bis nach Thrakien. Durch die Verhängung von Sperrzonen blieben zudem große Gebiete Dersims bis ins Jahr 1950 entvölkert und für die Wiederbesiedlung gesperrt. Ihsan Sabri Caglayangil beendet ein Interview, das er in den 80er Jahren mit keinem anderen als den späteren CHP-Chef Kilicdaroglu geführt haben soll, mit dem Satz: “Ja, die Angelegenheit in Dersim wurde gelöst. Die Autorität der Regierung kam in die Dörfer von Dersim. So wurde das Dersim-Problem beendet.“58

4. Akteure, Instrumentalisierung, Trauma
Die Türkei blieb bis ins Jahr 1946 ein Einparteienstaat. Die bis dahin in der Staatspartei CHP zusammengefassten politischen Kader waren alle, wie die Berichte und Gesetze der Zeit beweisen, aktiv am Massenmord in Dersim beteiligt. Vom Staatsgründer und Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk, den Premierministern Ismet Inönü und Celal Bayar, dem Innenminister Sükrü Kaya bis hin zum Generalstabschef Fevzi Cakmak und dem Inspektoratsleiter in Dersim, Abdullah Alpdogan, trägt die ganze Machtelite der Zeit die Verantwortung für die Morde und Deportationen. Nach 1946 wurden die meisten Funktionäre von damals zu Gründern der rechtskonservativen Parteien der Türkei. Die Demokratische Partei (DP), gegründet von Celal Bayar, und deren Nachfolgeparteien hatten ab 1950 fast immer die politische Oberhoheit im Staat. Die heutige AKP zählt auch zu dieser politischen Linie. Fevzi Cakmak wurde zum Gründer der rechts-religiösen Millet Partei (MP) die letztendlich die ultranationalistische MHP (Graue Wölfe) hervorbrachte.59 Die gesamte Staatsführung, von den strengen Laizisten bis zu den religiös Konservativen hat sich daher einer Aufarbeitung zu stellen.

Der Genozid von Dersim wird seit 1937 bis heute, verpackt in einer nationalistischen Zivilisationsrhetorik, instrumentalisiert.60 Die Republik hätte den imperialistisch unterstützten pro-kurdischen Großgrundbesitzeraufstand Seyyit Rizas niedergeschlagen und die Modernität nach Dersim gebracht. Die Enkelin Ismet Inönüs und jetzige CHP-Abgeordnete, Gülsün Bilgehan, sagte noch vor kurzem zu Reportern, dass die Deportationen von 1938 auch was Gutes an sich hatte. Zwar passten die Ereignisse von Dersim nicht in die heutige Menschenrechtsauffassung aber letztendlich zähle das Ergebnis. Heute kämen die zivilisiertesten, gebildetsten und demokratischsten Menschen der Türkei aus Tunceli (Dersim). Auch die Deportationen sind nach Bilgehan positiv zu bewerten, da die Mädchen im Exil eine gute Ausbildung bekommen hätten. Wären sie in diesen mittelalterlichen Bedingungen steckengeblieben, hätten sie nicht diese Familien gründen können, so Bilgehan.61 Bilgehan repräsentiert das kemalistische Bürgertüm der Türkei. Viele Kemalisten sind noch verhaftet in einem Kolonialdenken. Die Überbringung der Früchte der türkischen Revolution an vermeintlich unzivilisierte, archaische Bergstämme brachte diesen aber nicht mehr Zivilisation, sondern den Verlust ihrer gesellschaftlichen Einzigartigkeit.62

Das Volk von Dersims ist zudem bis heute noch ernsthaft traumatisiert. Die Überlebenden von 1938 haben lange mit niemandem über die Ereignisse reden können und versuchten ihre Kinder von jeglicher Politisierung fernzuhalten. Bis heute hält sich in den Köpfen der Irrglaube, dass Atatürk keinerlei Wissen über die Massenmorde gehabt habe und zu der Zeit bettlägerig gewesen sei. Vielmehr sei Ministerpräsident Celal Bayar der Schuldige. Am 10.11.1938 starb Atatürk tatsächlich an Leberzirose. Dass aber der unumstößliche Führer der Republik nach Erhängung Seyyit Rizas Ende 1937 auf Inspektionsreise in Dersim war, Celal Bayar einsetzte, alle in diesem Bericht aufgezählten Gesetze unterschrieb und den Invasionsplan auf Dersim selbst erstellte, findet sich im kollektiven Gedächtnis der Opfer nicht wieder oder wird verdrängt. Die angebliche Krankheit hielt Atatürk nicht auf, kurz vor Beginn der Massenmorde am 29. Mai 1938, auf einer Reise in Adana und Mersin zu verweilen.63 Die Sichtweise der Opfergeneration schuldet sich der immensen Traumatisierung und dem Überlebensinstinkt, den sie an den Tag legen musste, um ihre Kinder innerhalb der türkischen Republik aufzuziehen, die Atatürk ikonisierte. Die Opfer mussten an dem Ort der Verbrechen weiterleben und ihre Nachkommen aufziehen ohne diese dabei durch ihre Vergangenheit zu radikalisieren. Wahrscheinlich erschien ihnen auch die Ermordung zehntausender Unschuldiger so irrational, dass sie sich einfach nur an etwas festhalten wollten. Erst die Enkel der Opfer, die sich des Völkermordes von Dersim widmeten, konnten vieles durchblicken und an zum Teil geheime Informationen gelangen, die diese Sichtweise zerstörten.

Man muss dazu sagen, dass auch die meisten linksgerichteten Kräfte bis hin zu den Kommunisten an der Aufstandsthese des Staates festhielten und Seyyit Riza als großen Rebellen in ihre Agitation und Propaganda einbauten. Auch die kurdische Bewegung in der Türkei instrumentalisierte die Widerstandsgeschichte Dersims und zählt die Ereignisse von 1937 und 38 als großen pro-kurdischen Aufstand neben dem Seyh Said und dem Ararat64 Aufstand. Leider so muss man sagen, führen die eigentlich regimekritischen Kräfte der Türkei die offizielle Geschichtsversion der Kemalisten heute noch zum Teil fort und unterstützen deren These vom „Dersim-Aufstand“ auf ihre Weise.65 Wenn die aktuelle Dersim Diskussion noch etwas gebracht hat, dann das, dass sie die Unwahrheit dieser These entlarvt hat.

III. Schlussteil: Rückkehr in das kollektive Bewusstsein
Der Völkermord von Dersim ist, wie gesagt, nach 74 Jahren erneut wieder in das kollektive Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Die Selbstorganisationen der Bevölkerung von Dersim, allen voran die Föderation der Dersimgemeinden in Europa e.V. (FDG) leistet schon seit Jahren einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung dieses Verbrechens und tut ihren Anteil daran, dass 1938 nicht wieder aus dem Bewusstsein der Menschen entweicht.

1. Dersim 1937/38 Oral History Projekt
Föderation der Dersim Gemeinden in Europa (FDG) hat Dersim 1937-38 Oral History Projekt im Jahr 2009 ins Leben Gerufen. Das Hauptziel dieses Projektes ist die Gründung zweier Archiv- und Dokumentationszentren in Europa und in Dersim. Die Schilderungen der direkten Überlebenden und der Nachfolgegenerationen sollen darin für die Nachwelt aufgehoben werden. Ein elementarer Teil ihrer Arbeit ist die Dokumentation und Archivierung der Gespräche mit den noch lebenden Zeitzeugen des Völkermordes.66 An die 500 bis 1000 Zeugen leben noch verstreut innerhalb der Türkei, die meisten davon in Dersim. Rund 250 von ihnen haben die Mitarbeiter des Dersim 1937/38 Oral History Projekts schon interviewt und bereiten sich auf den 3. Mai 2012 vor, an dem sie die bisher gesammelten Informationen veröffentlichen wollen. Die heute über 80 und 90 Jährigen Zeugen haben zumeist als Kinder oder Jugendliche die Massaker überlebt, manche von ihnen tragen noch die Einstichstellen der Bajonette an ihren Körpern. Viele Zeugen berichten, dass sie von Soldaten an Flussufer oder Schluchten gebracht und dort niedergeschossen wurden. Die noch lebenden und von den Kugeln nicht getroffenen, wurden mit den Bajonetten aufgespießt. Einige Überlebende hatten die Bajonetteinstiche ertragen und sich nach dem Abzug der Soldaten weggeschleppt. Solch grausame Geschichten sind leider die Regel. An ca. 100 Orten in Dersim haben sich solche Massaker zugetragen. An keinem dieser Orte kam es zu Untersuchungen, obwohl die Menschenknochen zum Teil offen verstreut liegen. Das Projekt kämpft außerdem gegen die Zeit. Viele, damals Erwachsene, heute über 90 jährige, Zeugen sind leider schon verstorben, manche sogar noch kurz vor dem Interviewtermin. Manche haben aber noch ihr ertragenes Leid erzählen können. Die Traumatisierung der Opfer ist zum Teil so groß, dass ein Teil heute noch Angst hat, dass ihren Kindern etwas zustößt, falls sie reden. Viele ziehen es daher vor zu schweigen und nehmen ihre Erinnerung mit in den Tod. Da schriftliche Aufzeichnungen der Opfer über die Ereignisse von 1937/38 fehlen, sind deren mündlich weitergegebenen Erinnerungen die einzige Quelle der Erkenntnis. Die systematische Archivierung dieser Erzählungen und die Gründung der dazugehörigen Institutionen ist eine Hauptaufgabe des Projektes. Die wissenschaftliche Forschung und die Allgemeinheit würden davon profitieren.

Auch einige wenige Soldaten von damals sind unter den Interviewten. Mehmet Ali Cavus aus Erzurum berichtet von den Verbrechen aus der Täterperspektive.67 Als Soldat hätte er viele Dorfbewohner aus ihren Dörfer geholt und sie an das Flusstal „Kutu Deresi“ gebracht, wo sie in Gruppen erschossen und anschließend ihre Leichname verbrannt wurden. Der heute fast 100. jährige hat den Geruch der Verbrannten immer noch in seiner Nase und die Schreie der Menschen hört er nachts in seinen Träumen. Besonders die der Frauen, die mit dem Gewehrlauf erschlagen wurden, um Munition zu sparen. Sie hätten „Ya Ali“ und „Ya Xizir“68 gerufen, sagt er. Waffen hätten die Dorfbewohner keine besessen.

Mehmet Ali Cavus beschreibt in dem Interview auch wie seine Vorgesetzten die vorwiegend sunnitschen Soldaten aufstachelten, indem sie sagten, die Dorfbewohner seien „Kizilbas“, also Aleviten. Dies sollte den Soldaten den Auftrieb geben, diese immense Brutalität an den Tag zu legen. Auch der Inspektoratsleiter Dersims von 1938 Abdullah Alpdogan, trug diese armenophobe Einstellung in sich. Nach der Beendigung der Dersim Offensive sagte er in einer Rede, der Dersim-Aufstand sei von Armeniern angestachelt worden, die sich nach 1915 in Dersim versteckt hatten. Diese wären die eigentlichen Übeltäter.69 Die politischen Eliten hatten den Dersim-Stämmen die Rettung von zehntausenden Armeniern im Jahre 1915 anscheinend besonders übel genommen.

2. Gerichtliche Verfahren und Forderungen
Die Überlebenden und Leidtragenden der Verbrechen von 1938 haben immer wieder erfolglos versucht ihre Forderungen auf Bestrafung der Täter, die Untersuchung aller Tatorte von Massenexekutionen und die Anerkennung der Ereignisse von 1937/38 als Genozid gerichtlich durchzusetzen. Die Staatsanwaltschaft kam im Verfahren „Efe Bozkurt“ in Anlehnung der Aufstandsthese zu einer Einstellung des Verfahrens. Danach hätte der Staat nur einen separatistischen Aufstand niedergeschlagen und bei der Tötung der Rebellen nur von ihrem völkerrechtlich garantierten Selbstverteidigungsrecht Gebrauch gemacht. Unschuldige wären nicht zu Schaden gekommen. In anderen Fällen kam die Staatsanwaltschaft trotz der möglichen Wahrheit der Thesen zu einer Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung.70 Um die Einstellung wegen Verjährung zu umgehen, stellte man im Verfahren „Zini Gedigi“ nur noch die Forderung auf Untersuchung des Tatortes.71 Die Staatsanwaltschaft stellte auch dieses Verfahren wegen fehlenden öffentlichen Interesses ein, obwohl Fotos von Menschenknochen am Tatort der Akte beilagen.

Auch die Zeugenaussagen wurden von der Staatsanwaltschaft angezweifelt, obwohl im Verfahren „Karadag“ und „Efe Bozkurt“ die beiden Verfahrensführer direkte Überlebende und Opfer der staatlichen Handlungen waren. Im Verfahren „Aygün“, der nicht selbst zur 38er Generation gehört, konnte der Verfahrensführer, mittels Dokumenten vom Gouverneur von Tunceli aus dem Jahr 1955, die Tötung seiner Familienmitglieder durch Soldaten im Jahre 1938 beweisen, scheiterte aber dennoch an der Staatsanwaltschaft. In allen Verfahren wurde das Recht der Verfahrensführer auf rechtliches Gehör verletzt. Auch das Recht auf Totenruhe und das Recht auf religiöse Bestattung der Opfer wurde nicht beachtet. Dies alles lässt erkennen, dass der Staat kein politisches Interesse an einer ernsthaften Untersuchung der Vorkommnisse hat. Weiter stellen sich die Verfahrenseinstellungen als unhaltbar dar.

Die Verjährungseinstellung kann aber durch eine gesetzliche Regelung unterbunden werden. Die Verbrechen von Dersim 1938 müssten als Völkermord oder Genozid anerkannt werden.

Nach Art. II der Völkermordkonvention der UN von 194872, die die Türkei ratifiziert hat,

„(…) bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
– Tötung von Mitgliedern der Gruppe,
– Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe,
– vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
– Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind,
– gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“

Die Bevölkerung von Dersim und deren Organisationen bezeichnen die Geschehnisse von 1937/38 unstreitig als Völkermord. In der Hauptsprache von Dersim, in der Iranistik „Zazaki“ innerhalb Dersims meistens aber „Kirmancki“ genannt, wird der Begriff „Tertele“ verwendet. Dieses Wort bedeutet „mitsamt der Wurzel entfernen“ und „verwüsten“ und geht zurück auf den Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915. Die Menschen in Dersim reden von „tertele viren (erstes)“, wenn sie 1915 meinen und von „tertele peen (zweites)“, wenn sie die Massaker von 1937/38 beschreiben. Die Bevölkerung sieht den Genozid von 1937/38 ganz offensichtlich als dasselbe an, was den Armeniern angetan wurde und verwendet daher denselben Begriff. Alleine die ca. offiziell 14.000 Getöteten (inoffiziell mehr als dreimal so viel) und die mindestens 14.000 Deportierten sowie der entstandene seelische Schaden sprechen aber auch für die rechtliche Einstufung als Völkermord (Genozid) an den dortigen Aleviten.

Die FDG und die Menschen von Dersim wollen die Diskussion aber nicht auf die Genozidfrage verengen. Einerseits ist der Genozid-/Völkermordbegriff erst nach dem 2. Weltkrieg entwickelt worden. Aufgrund des Rückwirkungsverbotes kann der Genozid von 1937/1938 nicht nach der Völkermord-Konvention von 1948 behandelt werden. Es ist aber durch nationale Gesetze möglich die Geschehnisse von 1937/38 als Genozid anzuerkennen. Im Falle des Genozids an den Armeniern haben 91 Parlamente ein Gesetz zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern bereits erlassen. Die nationale Anerkennung des Völkermordes in Dersim würde zwar die Verjährungseinstellung überwinden und den Verfahren neuen Schwung geben. Die Durchsetzung der Anerkennung als Völkermord hat andererseits aufgrund der bisherigen Staatspraxis der Türkei wenig Aussicht auf Erfolg. Zudem brächte die Kanalisierung auf dieses eine Ziel nur eine langwierige komplett einseitige und emotional geführte Diskussion mit sich, wie die Diskussionen um den Armeniergenozid in der Türkei zeigen. Die Folge der damals staatlich eingeleiteten Hetzkampagne gegen die Armenier war der Mord an dem Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Hrant Dink am 19.01.2007.

Die Herstellung der Würde der Menschen von Dersim, die heute noch aufgrund ihrer Herkunft und Vergangenheit von Behörden und türkisch-nationalistischen Kreisen diskriminiert werden, verdient aber die höchste Priorität. Weiter ist die Wiederherstellung der kulturellen Identität Dersims ein Hauptanliegen der Menschen. Nach 1935 wurde der Name Dersims in Tunceli geändert, die Sprache verboten und die kulturell-religiöse Gesellschaftsstruktur zerstört. Die Menschen wurden teilweise in türkische Dörfer deportiert und unterliegen immer noch einer staatlichen Türkisierungs- und Sunnitisierungspolitik. Noch heute ist das alevitische Ocak-System irreparabel gestört und die alevitischen Glaubenshäuser sind nicht legalisiert. Während der bewaffneten Auseinandersetzungen in den Neunzigern verließen aufgrund der Repressalien der türkischen Armee ca. 40.000 Menschen die Provinz. Heute leben nur noch 79.000 Menschen in der Provinz Dersim/Tunceli. Zudem wird die Region von einem Energieprojekt bedroht, das alle Flüsse Dersims mit Staudämmern und Kraftwerken zu überziehen gedenkt. Ist das ökologische Gefüge Dersims einmal zerstört und alle religiösen Orte Unterwasser gesetzt, werden auch die übrigen Bewohner Dersims keine Überlebensmöglichkeiten mehr haben und auswandern.

Die Entschuldigung des Premierministers Erdogans ist daher entscheidend. Aufgrund der von ihm selbst vorgetragenen Beweise und der Bezeichnung der Ereignisse von 1937/38 als Massaker müssten die Gerichte und Staatsanwaltschaften die Verfahren um Dersim 1937/1938 neu aufrollen. Erdogan selbst hat die Aufstandsthese als Lüge bezeichnet und von der langen Vorbereitung der Offensive gesprochen.73 Der Staat selbst hat sich daher in die Situation manövriert, die Ungerechtigkeiten die Dersim widerfuhren, endlich auszugleichen.

Die FDG hat dem Vize-Premierminister, Bülent Arinc, am 02.12.2011 daher im Anschluss an diese Entschuldigung einen Forderungskatalog übergeben.

1. Danach soll der 4. Mai zum offiziellen Trauertag erklärt und die Archive, vor allem das der Militärführung, geöffnet werden.

2. Die genauen Orte der Gräber der unrechtmäßig Erhängten vom 15.11.1937 sollen den betroffenen Familien endlich mitgeteilt werden.

3. Das Schicksal der verschollenen Kinder von Dersim soll offenbart und deren Namensliste ausgehändigt werden.

4. Die Identität der Toten in den Massengräbern z.B. im Verfahren von Zini Gedigi, soll anhand von DNA-Untersuchungen geklärt und deren menschenwürdige Bestattung gewährleistet werden.

5. Eine Kommission zur Erforschung der Wahrheit zu Dersim 1937/38 soll eingesetzt und der Name der Provinz Tunceli wieder in Dersim geändert werden.

6. Die Provinz Dersim soll auch wieder in ihren historischen Grenzen neu strukturiert werden.

7. Zuletzt soll dem Volk von Dersim eine sichere Existenz unter Auslebung ihrer Sprache, Kultur und ihres Glaubens in ihrem Grund und Boden garantiert sowie alle bis heute erlittenen Schäden wieder gut gemacht werden.74

3. Aufarbeitung der Vergangenheit
In wie weit diese Forderungen verwirklicht werden können, hängt von der Ehrlichkeit der Entschuldigung des Premierministers ab, an der starke Zweifel bestehen. Auch wenn die Entschuldigung nicht in der Manier abgegeben wurde, wie sie in der europäischen Erinnerungskultur, besonders in Deutschland nach 1945, herrscht, hat die türkische Gesellschaft und das Staatswesen dennoch zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Entschuldigung eines Premierministers für Staatsverbrechen miterlebt. Eine Anerkennung der Kollektivschuld der gesamten politischen Elite der Republik, nicht alleine der CHP, und eine Aufarbeitungs- bzw. Wiedergutmachungspolitik hat sich diesem Tabubruch anzuschließen. Das Geschehene erzeugt Hoffnung, da ein konservativer Präsident diesen Schritt getan hat. In einer mehrheitlich konservativen Gesellschaft kann aber auch nur ein konservativer Präsident Veränderungen erzeugen. Für eine Vergangenheitsbewältigung sollte die Türkei eigentlich auch bereit sein. Eine Vergangenheitsbewältigung braucht nämlich drei Voraussetzungen: Ein Verbrechen, dessen Beendigung und eine Demokratisierung. Der Völkermord von Dersim 1937/38 erfüllt diese Kriterien. Die Türkei durchläuft diesen Demokratisierungsprozess aber gerade und tut sich in vielerlei Hinsicht schwer. Die zaghaften Versuche einer Aufarbeitung werden durch das widersprüchliche Verhalten der AKP selbst konterkariert.

Gesetzesinitiativen nach 2009 hat die Regierungspartei nicht unterstützt, besser gesagt abgelehnt. Des Weiteren gefährden die durch die Regierung eingeleiteten Staudammprojekte das kulturell-religiöse Erbe Dersims in hohem Maße, da viele alevitische Glaubensstätten unter Wasser gesetzt werden. Auch die Tatorte des Völkermords würden für immer verschwinden. Die AKP-Regierung führt dieses Projekt trotz aller Proteste und entgegenstehender Verwaltungsgerichtsurteile aber weiter. Und das obwohl das Gebiet seit 1973 ein Nationalpark ist. Zudem ist der alevitische Glaube immer noch quasi verboten und den Cem-Häusern fehlt die rechtliche Grundlage. Die AKP-Regierung weigert sich die etwa zwanzig Millionen Aleviten als Religionsgemeinschaft anzuerkennen und führt den Bau von Moscheen in alevitischen Dörfern konsequent fort. Alevitische Kinder werden trotz entgegenstehendem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg, dazu gezwungen den schulischen Religionsunterricht zu besuchen.

Premierminister Erdogan hat aber durch seine halbherzige Entschuldigung den Stein ins Rollen gebracht und die Diskussion um den Völkermord von Dersim 1937/38 wiederbelebt. Falls die Regierung es schafft diese Angelegenheit aufzuarbeiten, kann sie sich an den Völkermord an den Armeniern wagen, dessen 100. Jahrestag im Jahre 2015 ansteht. Daneben bleibt die Kurdenfrage, die Pogrome an den Christen 1955 und den Aleviten in den siebziger und neunziger Jahren, die politischen Attentate an Tausenden Linken und Kurden nach 1990, die Zerstörung von Hunderten Dörfern in Ostanatolien 1994 sowie der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink. Kurz gesagt, die Zu-Ende-Führung der Demokratisierung der Türkei. Erdogan hat sich eine sehr ehrgeizige Aufgabe gestellt, er will im Jahre 2023, zum 100. Jahrestag der Republikgründung, mit seiner AKP immer noch das Land regieren und es bis dahin von seinen Altlasten befreit haben. Falls die Regierung dies ernst meint, sollte sie endlich durch das Tor voranschreiten, dass sie absichtlich oder versehentlich geöffnet hat und sich Dersim endlich mit aller Seriosität widmen.

Çağan Varol Köln, den 12.01.2012

Das Oral History-Projekt Dersim 1938 (von Karen Jungblut)

Unter persönlicher Teilnahme von Mustafa Kemal und Generalfeldmarschall Fevzi Cakmak wurde in der Kabinettssitzung vom 04.05.1937 im Nachhinein der Beschluss zum Völkermord in Zentraldersim vom Ministerrat eingeholt.

BESCHLUSS DES MINISTERRATS ÜBER DIE EXEMPLARISCH ABSCHRECKENDE VERNICHTUNGSAKTION TUNCELIS IM JAHRE 1937

STRENG GEHEIM

  1. Mai 1937

Mit der persönlichen Teilnahme Atatürks und des Generalfeldmarschalls am 04.05.1937 wurden die Protokolle über die Ereignisse in Tunceli genau untersucht und eingehend geprüft und der unten dokumentierte Beschluss gefasst:

  1. Die gesammelten Streitkräfte haben mittels eines starken und äußerst wirkungsvollen offensiven Angriffs über Nazimiye, Kecigezen (Asagi Bor), Sin bis zur Grenze Karaoglan anzukommen.
  2. Diesmal ist das aufständische Volk aus diesem Gebiet zu sammeln und in ein anderes Gebiet zu deportieren. Während dieser Zusammenlegungsaktion sind einerseits alle Waffen dort zu sammeln, andererseits die Festgenommenen mit der gleichen Intensität zu deportieren. Zum jetzigen Zeitpunkt sind seitens der Regierung alle Maßnahmen hinsichtlich der Deportation von 2000 Personen geschaffen worden.

ACHTUNG:
Wenn man sich nur mit Angriffsaktionen begnügen würde, würden die Aufstandsquellen für immer dort weiter existieren. Aus diesem Grunde sind alle, die eine Waffe benutzt haben und benutzten an Ort und Stelle bis zum Schluss in die Lage zu bringen, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können. Die Dörfer sind gänzlich zu vernichten und ihre Einwohner zu deportieren.

VERMERKT:
Nach der Ankunft der Truppen aus Malatya und Ankara im Kriegsgebiet und der Übung und Erholung der Kriegstruppen auf dem Kriegsfeld, außerdem die Stationierung der Bataillonstruppe aus Diyarbakir in das Kriegsgebiet vergeht eine Woche, somit ist das geeignete Angriffsdatum der 12. Mai. Ohne Rücksicht auf die Kosten zu nehmen, muss versucht werden, so viele Menschen wie möglich von ihnen zu gewinnen, um sie für unsere Ziele zu benutzen.

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Dersim und die Dersimer (Föderation der Dersim Gemeinden in Europa)

Dersim und die Dersimer (Föderation der Dersim Gemeinden in Europa)
(Die Geographie, Kultur und Geschichte von Dersim)

Die historische Region Dersim erstreckt sich im mittleren Osten der heutigen Türkei, im Norden, von Erzingan ( Erzincan ) bis im Osten Erzurum, im Süden Gımgım (Varto), Malatya, und im Westen Kocgiri/ Sewas ( Sivas). Die Natur der Region ist geprägt mit Bergen und Flüssen ( Munzur, Harçig, Fırat, Murat, Kızılırmak), Hochland und Ebenen, mit einzig artigem Flora und Fauna und sie ist das Lebensraum für unzählige seltene Tierarten.

Bei der Bezeichnung Dersim handelt es sich um eine sehr alte ethnische und geographische Bezeichnung. Zum ersten Mal wird der Name Dersim in dem Werk „Anabasis“ von Xenonphon im Jahre 401/402 v. Chr., der mit seinen griechischen Soldaten von Babylon nach Trabezunt ( das heutige Trabzon )am Schwarzen Meer zog, genannt. Dersims weite Grenzen sind im Laufe der Geschichte geschrumpft. 1935 wurde das Zentrum der Region Dersim ( Mamekiye) von ihren türkischen Besatzern in Tunceli umbenannt.

(Das Munzur-Tal und Nationalpark Munzur.)

Die Geschichte von Dersim ist geprägt durch Auseinandersetzungen mit den Besatzern von vor-osmanischer Zeit bis zur Gegenwart für kultureller und religiöser Eigenständigkeit zur Bewahrung eigener Identität und Kultur.

In der historischen Region Dersim lebten mehrere Ethnien miteinander ( Dersimer (Kırmancen, Kırdaschen), Kurden, Armenier, Zazas). Wegen seiner geographisch günstigen Lage wurde Dersim in der Geschichte zum Zufluchtsheimat für bedrohte Völker und Ethnien. Beim Massaker an Armeniern im Jahre 1915 haben viele Dersimer ihr Leben verloren. Der Koçgiri-Aufstand im Jahr 1920 beeinflusste die Dersimer unmittelbar. Das Dersim-Massaker von 1937/1938, bei dem nach Quellen der Dersimer etwa 40 – 60 Tausend Dersimer ihr Leben verloren haben und nach Quellen des Stadtgoverment 12500 Menschen verschwanden, hinterließ bei den Dersimern unvergessliche Spuren bis auf die Gegenwart. Die Überlebenden des Massakers sind in die westliche Türkei, jeweils einzelne Familien in ein türkisches Dorf zwangsumgesiedelt. Sie durften ihre Verwandte nicht besuchen. Vom 1938-1946 wurde größter Teil von Dersim als Sperrgebiet zur Reise und Siedlung verboten. Viele Weisekinder wurden aus ihren Familien und Verwandtschaft entwurzelt und türkischen Familien zur Adoption gegeben. Nach Angaben des Dokumentautors des Massakers N. Dersimi betrug die Zahl der Bevölkerung von Dersim bei der Volkszählung im Jahr 1927 250 Tausend Einwohner, nach staatlichen Quellen lebten in Dersim damals 130- 170 Tausend Einwohner.

(Die Provinzstadt Tunceli in Zentrum von Dersim.)

Gegenwärtig wird das Bestehen von Dersim und Dersimern durch militärische Auseinandersetzungen, durch Bau von Staudämmen, durch Goldabbauprojekten mit naturschädigenden Methoden und infolge all dessen durch Auswanderung der einheimischen Bevölkerung bedroht.

Nach Informationen der türkischen Presse vom 19 Juli 2005 ist die Einwohnerzahl von Dersim in den letzten fünf Jahren um 15,4 %, vom 93. 584 auf 79.176 zurückgegangen. Damit steht Dersim (Tunceli) in der Liste der Städten mit dem prozentual höchsten Bevölkerungsverlust in letzten fünf Jahren auf der Spitze und Dersim ist mittlere weile die Stadt mit der niedrigsten Einwohnerzahl in der Türkei.

Von rund 400 Dörfern in Dersim sind in den letzten 15 Jahren 235 geräumt und zerstört.

Einerseits durch den Schatten der Waffengewalt, der Militäroperationen, andererseits durch Bau von Staudämmen, Waldbrände bei Operationen des Militärs, Zerstörung der Natur und Kultur, Räumung der Dörfer, in Folge dessen Auswanderungen, parallel dazu Rückgang der Wirtschaft, verliert Dersim allmählich die Kraft, als Lebensraum zu existieren.

Sprache, Religion, Kultur und Identität der Dersimer
In Dersim werden gegenwärtig mehrere Sprachen gesprochen. Die Sprachen der einheimischen Dersimer sind Kırmancki (wird von der Mehrheit der Einheimischen gesprochen und ist wegen Verbot als Bildungssprache vom Aussterben bedroht, ist international als Zaza-Sprache bekannt), und Kırdaşki/ ( international als Kurdisch bekannt).

Die Dersimer haben eine vielfältige humanistische Glaubenskultur, die durch Inhalte aus ihrer alten Ritualen und Gebräuchen (Glaube an die Natur und Mensch), aus Kizilbas-Alevitentum geprägt ist und das Hauptbindeglied der eigenständigen Identität der Dersimer ausmacht. Die zentralen Werte dieser Glaubenskultur basieren auf das Glauben an die Natur, an den Menschen und auf das gerechte soziale Zusammenleben von Mensch und Natur, Frau und Mann und der Völker. Gerade durch diese historische Entwicklung der eigenständig vielfältigen Glaubenskultur hat Dersim trotz Mehrsprachigkeit und Ethnienvielfalt eine eigenständige Identität erlangt. Diese Identität wird bis Gegenwart in den historischen Grenzen der Region Dersim aufbewahrt und verpflegt. Die Dersimer wurden wegen ihres Glaubens vom Osmanischen Reich und vom türkischen Staat mit unzähligen Massakern bestraft. Das letzte Dersim-Massaker fand in den Jahren 1937/38 statt.

Durch gezielte Politik des Staates werden auch gegenwärtig die Kultur, das Glauben und die Identität von Dersimern ignoriert und bedroht. Glaubensritualhäuser der Dersimer „ Cemevleri“ werden vom Staat nicht als solche anerkannt, stattdessen baute der Staat trotz der Ablehnung der Bevölkerung Moscheen in der Region.

Vor sechs Jahren wurde in Dersim das Munzur Festival gegen die Bau von Staudämmen ausgerufen, um die Natur und Kultur von Dersim zu schützen und wieder zu beleben. Und das Festival wurde allmählich die Stimme der Dersimer, deren sozialen und kulturellen Erwartungen, die Stimme der Natur von Dersim. Mit bis zu 50 Tausend Besuchern jährlich aus dem In-, und Ausland in den letzten Jahren förderte das Festival die Wirtschaft und das Leben in Dersim. Das Festival wurde im letzten Jahr 3 Tage vor Beginn „ aus Sicherheitsgründen“ durch den Stadtgoveneur 45 Tage verlegt und damit praktisch verboten.

Obwohl das Munzur-Tal im Jahr 1971 als Nationalpark zum Naturschutzgebiet deklariert wurde, werden auf dem Munzur Fluss mehrere Staudämme geplant und gebaut. Dadurch wird Dersim praktisch entvölkert und die einzigartige Natur von Munzur-Tal zerstört.

Dersimer in Europa
Mit Zuwanderung von Gastarbeitern aus der Türkei in die europäische Länder Anfang 60`er Jahre sind auch viele Dersimer nach Europa gekommen. Sie leben hauptsächlich in Deutschland und in den Ländern Holland, Frankreich, Österreich, Schweiz, Belgien, Dänemark, Schweden und Groß Britannien. Gegenwärtig wird die Zahl der Dersimstämmigen in Europa auf 200-300 tausend geschätzt.

In Europa haben die Dersimer sich einerseits an die Gesellschaft integriert, andererseits haben sie versucht, ihre Identität zu pflegen und sich mit den Menschen in ihrer Heimat zu solidarisieren.

(Kindertheater bei Munzur-Rhein Main Kulturfestival 2006)

Die Region Dersim wurde besonders in den 80`er und 90`er Jahren Zielscheibe der militärische Operationen. Dies führte zu Zerstörung von Dörfern und Auswanderung der Bevölkerung aus der Region. Um sich mit Dersimern in der Heimat zu solidarisieren haben die Dersimer in Europa mehrere Initiative und Vereine gegründet. Diese Vereine haben einerseits die Solidaritätsarbeit mit Dersim aufgenommen andererseits mit kulturellen Aktionen ihre Kultur und Identität in den europäischen Ländern gepflegt und aufbewahrt.

Gegenwärtig haben sich insgesamt 15 Vereine in Deutschland und in einigen anderen europäischen Ländern zusammengefügt, um die Föderation von Dersim-Gemeinden in Europa zu gründen. Das Ziel dieser Föderation ist die kulturelle Aktivitäten dieser Vereine, die Integration der Dersimer in Europa zu fördern und die Solidaritätsarbeit mit Dersim zu koordinieren. Die Natur, die Kultur und die Identität von Dersim und Dersimern zu pflegen und aufzubewahren.

Die Dersimer wünschen ein friedliches Miteinanderleben in Europa und in ihrer Heimat auf der Grundlage der Menschenrechte und Demokratie. Sie wollen mit ihrer eigenständigen Identität in der Vielfalt der Kulturen existieren.

Föderation der Dersim Gemeinden in Europa

Bobstr. 6-8
50676 Köln
Tel.: (0221) 240 61 89
Mobil : 01632652785
E-Mail: dersim-fdg@hotmail.de