Was ist Oral History (von Prof. Dr. Leyla Neyzi)

Was ist Oral History? (von Prof. Dr. Leyla Neyzi)
Prof. Dr. Leyla Neyzi
Sabancı Universität
Hochschullehrerin der Fakultät für Kunst und Sozialwissenschaften

Seit Hunderten von Jahren lernen die Menschen durch mündliche, traditionelle Erzählungen über die Vergangenheit und überliefern sie so. Im historischen Prozess, auch wenn man in­zwischen von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung übergegangen ist, laufen diese trotz der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien heute noch parallel. Wie kann man die Oral History, die ein neues interdisziplinäres akademisches Gebiet und eine neue Forschungs­methode darstellt, definieren?
Oral History besteht aus mündlichen Überlieferungen aus der Vergangenheit, und zwar aus den im Dialog zwischen dem erzählenden Subjekt und dem Historiker aufgezeichneten Erinnerungen. Oral History fördert Ereignisse und Erlebnisse zu­tage, die in den meisten Fällen von der Geschichtsschreibung nicht aufgezeichnet wurden – oder aber anders aufgezeichnet wurden – und legt den Schwerpunkt auf die individuelle Er­fahrung des Subjekts, welches den geschichtlichen Ablauf anders erinnert als die Geschichts­schreibung und welches die Überbleibsel der Geschichte in seinem Körper trägt. In diesem Zusammenhang fällt es in den Verantwortungsbereich der Oral History, die Aufzeichnungen und Archivierung der Erinnerungen von Zeugen wichtiger Ereignisse in der jüngeren Ge­schichte, insbesondere der Älteren unter ihnen, vorzunehmen.
Oral History beschäftigt sich ebenso mit den Ereignissen der jüngeren Geschichte wie damit, den früheren Ereignissen und Individuen für unsere Zeit Bedeutung beizumessen. Oral History profitiert bei der Erzeugung eigener Materialien vom Gedächtnis der Individuen. Auch wenn es bei einem Oral History-Interview um die Vergangenheit geht, trägt es sowohl die Spuren der Vergangenheit als auch aktuelle Spuren, da es in unseren Tagen durchgeführt worden ist. So betrachtet betrifft Oral History ebenso unsere Gegenwart wie die Ge­schichte. Oral History hat sich parallel zur nationalen Geschichtsschreibung entwickelt und ist, beeinflusst von der klassischen Geschichtswissenschaft, von Marxismus und Feminismus, Postmoderne und den Demokratisierungserfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg, infolge von Hinterfragung entstanden. Die Geschichtswissenschaft, die sich gestützt auf schriftliche Dokumente von Staaten und Eliten entwickelte, hat insbesondere nach den 60er Jahren einfa­che Menschen, Migranten, Frauen, die Arbeiterklasse und ethnische und religiöse Minderhei­ten, die zuvor nicht Gegenstand der Geschichtsschreibung waren und zumeist keine schriftli­chen Dokumente hinterlassen haben, als historisches Subjekt für sich entdeckt. Um deren Geschichte schreiben zu können, hat die Oral History die erlebten Erfahrungen angehört und mittels der vor allem seit den 60er Jahren verbreiteten Tonaufzeichnungsgeräte aufgezeichnet und archiviert und sich so entwickelt. Oral History hat die Betrachtungsweise der Gesellschaft hinsichtlich der Vergangenheit verändert. Sie hat der Erkenntnis zur Durchsetzung verholfen, dass auch einfache Menschen durch ihr Alltagsleben Geschichte schreiben. Aus dieser Sicht betrachtet stellt die Oral History nicht nur ein akademisches Forschungsgebiet dar, sondern ist auch ein Weg zur gesellschaftlichen Veränderung geworden.
Durch die Oral History wurden sowohl von der Geschichtsschreibung der Nationalstaaten unter den Teppich gekehrte Ereignisse zutage gefördert als auch durch die Aufzeich­nung verschiedener Erfahrungen und Kommentare von einfachen Menschen zu bekannten historischen Ereignisse diesen neue Bedeutung beigemessen, ihre Interpretation geändert und somit die klassische Geschichtsschreibung in Frage gestellt. Um die Gegenwart begreifen zu können, ist es erforderlich, die Geschichte zu verstehen. Es verwundert nicht, dass die Oral History erst in den letzten Jahren begonnen hat, sich in der Türkei zu entwickeln. Denn die türkische Gesellschaft hat einen ernsthaften Bruch zu ihrer Vergangenheit erlebt. Es hat sich eine Kluft zwischen den Lebenserfahrungen und Erinnerungen der Individuen und dem, was ihnen als Geschichte gelehrt wurde, aufgetan. Die Unterschiede zwischen den privaten und den öffentlichen Bereichen wurden unter dem Einfluss der weitverbreiteten Angst übertüncht und zur Normalität erklärt. Das in der Vergangenheit Erlebte wurde den neuen Generationen nicht überliefert oder falls doch, so wurde darauf geachtet, dass die Überlieferung im privaten Bereich verblieb. Genau diese Situation hat jedoch in den letzten Jahren begonnen, sich zu ändern. Die Fortentwicklung der Zivilgesellschaft und die Suche nach der individuellen Identität und der historischen Wahrheit führten zu wachsendem Interesse an der Vergangenheit, und somit wurde die herkömmliche Überlieferung in Frage gestellt. Die Arbeit der Oral History spielt in Bezug auf diese Veränderungen eine wichtige Rolle.

Die Aufzeichnung der Ereignisse von Dersim 1937-38 als einem der wichtigsten traumati­schen Ereignisse in der Türkei durch die Oral History ist ein verspätetes Projekt, welches die Dersimer unverzüglich in die Hand nehmen sollten. Im Rahmen dieses Projektes müssen die Erinnerungen und Lebensgeschichten der noch lebenden Zeugen von 1937-38 rasch und mit Hilfe moderner Oral History-Befragungsmethoden mittels Video- und Audio-Aufnahmen archi­viert, diese Archive müssen den Dersimern und der internationalen Forschung zur Nutzung zur Verfügung gestellt und die Geschichte von 1937-38 muss sowohl auf mündliche als auch auf schriftliche Quellen gestützt neu geschrieben werden. Außerdem müssen mit den Dersimern der zweiten und dritten Generation Oral History-Interviews geführt wer­den, um zu erforschen, welchen Einfluss diese traumatischen Ereignisse auf das Bewusstsein und die Identität der Dersimer gehabt haben. Es muss über die Bindungen der Dersimer Bevölkerung an die Vergangenheit und über ihre aktuellen Ansichten zu Identität und Subjekti­vität diskutiert werden.
Das Oral History-Projekt Dersim 1937-38 wird eine in der Türkei vernachlässigte und totge­schwiegene traumatische Geschichte sowohl der türkischen Gesellschaft als auch der interna­tionalen Öffentlichkeit bekannt machen. Es wird auch einen Beitrag zur Wissenschaft leisten und mithelfen, die Geschichte der Wahrnehmung der Gesellschaft in der Türkei zu ändern und die Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins zu fördern. Gleichzeitig wird es dazu beitragen, dass Dersimer aus verschiedenen Generationen sich durch ihre Beteiligung am Pro­jekt an die Vergangenheit erinnern oder davon erfahren und ihren Beziehungen zu ihrer Ver­gangenheit und somit ihrer aktuellen Identität einen anderen Stellenwert beimessen.

Unterstützung für das Oral History-Projekt Dersim 1938 (von Prof. Deborah Dwork)

Unterstützung für das Oral History-Projekt Dersim 1938 (von Prof. Deborah Dwork)
Prof. Deborah Dwork
Professorin für die Geschichte des Holocaust
Direktorin des Strassler-Forschungszentrums für Holocaust- und Genozid-Studien,
Clark-University

Ich fühle mich geehrt, das ,Oral History-Projekt Dersim 1938’ unterstützen zu können. Dieses Projekt, welches eine Initiative von großem historischem Gewicht ist und eine enorme Bedeutung hat, zielt darauf ab, die mündlichen Berichte von Überlebenden und Zeugen des Dersim-Massakers aufzuzeichnen. Das Alter diktiert die Dringlichkeit. Jetzt ist die Zeit, diese Stimmen festzuhalten; jetzt ist die Zeit sicherzustellen, dass jene, die gelitten haben und jene, welche gesehen haben, ein dauerhaftes historisches Zeugnis hinterlassen.

Ich beteilige mich an dem Dersim Oral History-Projekt deswegen, weil ich, eine Historikerin des Holocaust, welche Hunderte von mündlichen Berichten von überlebenden Kindern und Rettern aufgezeichnet hat, die grundlegende Bedeutung dieses Unterfangens erkenne. Die Geschichte einer jeden Person ist ein Faden; gemeinsam weben sie einen reichen Teppich historischer Erfahrung. Ich biete dem Projekt meine Erfahrung und meine akademische Sachkenntnis an. Und ich entbiete allen, die daran beteiligt sind, meine besten Wünsche. Ihr werdet eine reine Idee in ein reiches Archiv verwandeln, das von den kommenden Generationen genutzt werden wird.

Mit freundlichen Grüßen

Rede von Yasar Kaya (im Landtag)

Rede von Yasar Kaya (im Landtag)
Sehr geehrter Herr von Grünberg,
sehr geehrte Frau Kolb,
sehr geehrter Herr Dr. Copur,
sehr geehrter Herr Yüksel,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Dersimer,

ich begrüße Sie herzlich und danke Ihnen sehr dafür, dass Sie uns die Möglichkeit gegeben haben, die Geschichte Dersims bekannt zu machen.
Unser besonderer Dank gilt Herrn von Grünberg und Herrn Yüksel, die uns trotz einiger Diskussionen und Schwierigkeiten die heutige Veranstaltung ermöglicht haben.
Die Region Dersim liegt im Osten der Türkei, in Ostanatolien zwischen den Quellflüssen von Euphrat und Tigris, und bezieht die Städte Tunceli und teilweise Bingöl, Sivas, Elazig und Erzincan ein. Die heutige Provinz Tunceli, die kleinste und zweitärmste der 80 türkischen Provinzen, besteht aus dem ehemaligen Zentral-Dersim. Dersim ist ein buntes Mosaik von Kulturen: Allein die Sprachenvielfalt von Kirmancki/Zazaki, Kurdisch und Türkisch – und bis in die 40er-Jahre auch Armenisch – beweist die kulturelle Vielfalt.
Die Bevölkerungszahl dieser Region ist seit Gründung der Republik Türkei durch Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung kontinuierlich gesunken. Während 1980 in Dersim 154.000 Menschen lebten und heute nur noch 79.000, sich ihre Zahl also fast genau halbiert hat, ist die Bevölkerung der Türkei im gleichen Zeitraum von 40 auf 72 Millionen Einwohner gewachsen. Die Kämpfe in den letzten 30 Jahren zwischen dem türkischen Militär und der PKK fügten Dersim zudem einen noch nicht abzuschätzenden Schaden zu. Viele Dörfer sind zerstört, Wälder wurden in Brand gesetzt, Menschen inhaftiert, gefoltert und getötet. Durch das gigantische Staudammprojekt GAP werden zudem weite Teile unseres Landes überflutet; viele unserer heiligen Stätte wie auch alte armenische Kulturdenkmäler versinken.

Viele Dersimer mussten aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen, und so sind wir überall auf der Welt, aber nicht aber da, wo unsere Wurzeln sind.
An die 200.000 Dersimer leben in Deutschland, alleine in Nordrhein-Westfalen Zehntausende, und viele von ihnen sind inzwischen gut integrierte deutsche Staatsbürger. Wir sind die Kinder und Kindeskinder der vor über 50 Jahren hier in Deutschland angeworbenen, zutiefst traumatisierten und im Bezug auf ihre Identität verunsicherten Hilfsarbeiter.
Über Jahrzehnte hinweg haben unsere Eltern und Großeltern schweigen müssen; geredet wurde nur hinter vorgehaltener Hand. Die Angst ging mit ihnen in die Welt, und so wurde auch hier in Deutschland lange nicht gesprochen. Dafür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens hatten die Auswanderer Angst, dass ihre Kinder sie und sich vielleicht würden rächen wollen, und zweitens mussten sie damit rechnen, in der Türkei als Staatsfeind beschuldigt zu werden, wenn sie ihre Erlebnisse erzählen würden. Verwandtenbesuche, Heimaturlaube – all das war in Gefahr, bis hin zur Inhaftierung wegen „Beleidigung des Türkentums“.
Sie hatten Eltern und Verwandte verloren, wurden als Kinder Zeuge von Massenexekutionen, bei denen sie teilweise unter Leichen begraben wurden und nur so überleben konnten, oder sind mit den unfassbarsten, grauenhaftesten Erzählungen über diese Massaker aufgewachsen.

1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer dieser Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und ihre nahen Verwandten kennenzulernen. Viele von uns sind ohne ihre Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahe Verwandte aufwachsen zu müssen. Diese Gefühle lassen sich in ihrer Kausalität letztendlich nur von Gemeinschaften nachvollziehen, die einem ähnlichen Völkermord ausgesetzt waren.
Trotz alledem war das Volk von Dersim niemals gesonnen, Blutrache zu üben. Dies würde der Nächstenliebe widersprechen, welche die Traditionen und die Kultur unseres Volkes lehren.
In Deutschland lebt eine große Anzahl der anatolischen Minderheiten, die allesamt als „Türken“ eingeordnet werden: Dersimer, Armenier, Pontos-Griechen, Assyrer, Kurden und andere mehr haben zusammen mit Türken, Italienern, Jugoslawen und anderen „Gastarbeitern“ die Entwicklung in Deutschland vorangebracht, haben mit zu seinem Wohlstand beigetragen, haben als Hilfsarbeiter bei Ford, Opel oder anderen Fabriken gearbeitet.

Darf ich Ihnen zwei Beispiele aus meinem Bekanntenkreis geben?

Yusuf Güzel, ein Zeitzeuge, ist 1932 zur Welt gekommen, 1966 kam er nach Deutschland. Er arbeitete bis zu seiner Rente 1992 bei Ford in Köln und ist am 22 Juni 2012 gestorben. Sein Sohn Haydar arbeitet ebenfalls seit 1981 bei Ford und ist ein Gewerkschaftler. Seine Enkelkinder Onur und Baris gehen beide zur Universität. Sie alle sind deutsche Staatsbürger.
Mein Onkel Hasan Kaya, geboren 1932 in Dersim, ist auch ein Zeitzeuge des Völkermords in Dersim. Als mein Großvater erfuhr, dass die Nachbardörfer überfallen und die Menschen umgebracht worden waren, schickte er seine drei Söhne in den Wald, damit sie nicht alle getötet würden. Die Tragödie seiner Familie spielte sich vor seinen Augen ab. Er beobachtete aus seinem Versteck heraus, wie Soldaten die Menschen unter Flüchen und Schreien aus ihren Häusern trieben, sie zum Bach „Derê Meyitu“, dem „Leichenbach“, brachten und sie dort töteten. Dabei verlor er seine Mutter, seine Großmutter, seinen Vater, zwei Schwestern und die Tochter seiner Schwester.
Er kam 1966 nach Deutschland und arbeitete bei Opel bis zur Rente. Alle seine Kinder und Kindeskinder leben in Wiesbaden; alle zehn Enkel sind gute Schüler hier in Deutschland.

Zusammen mit unserem Dachverband, der „Föderation der Dersim Gemeinden in Europa e.V.”, kurz „FDG“, haben wir endlich das Schweigen gebrochen und bei der Aufarbeitung unserer Geschichte einen sehr konkreten, unschätzbaren Dienst geleistet: Mit fast 350 Zeitzeugeninterviews und fast 800 Stunden Rohmaterial haben wir das Schweigen beendet und das politische Bewusstsein über den Völkermord geschärft, so dass unter anderem eine Entschuldigung folgte. Immerhin: Ministerpräsident Erdogan hat sich am 23 November 2011 offiziell entschuldigt. Für die Aufarbeitung war diese Entschuldigung ein sehr wichtiger Schritt, dem bis jetzt aber leider keine Taten gefolgt sind. Auch stimmen die offiziellen Zahlen von zum Beispiel 13.806 getöteten Menschen nicht; vermutlich waren es um die 50.000. Und die Repressionen in der Region Dersim endeten auch in den letzten vierzig Jahren nicht.

Der Startschuss zu dem Dersim 1937-38 Oral History Projekt

Der Startschuss zum Dersim 1937-38 Oral History Projekt fiel im September 2008 in Dortmund. Mitglieder der FDG, Dersimer Akademiker und Politiker beschlossen, das „1937-38 Zeitzeugenprojekt“ ins Leben zu rufen, um zumindest die Aussagen der letzten Überlebenden zu sichern. Das „Dersim 1937-38 Oral History Projekt Komitee“ wurde gebildet, das sich aus dem Vorsitzenden der FDG, Akademikern aus dem Gebiet der Sozialwissenschaften, Pressemitarbeitern und IT-Technikern zusammensetzt. Das Komitee übernahm die Planung, die Organisation und die Durchführung des Projektes.

Vorbereitung für die Interviews

Um die Projektmitarbeiter zu qualifizieren, wurden drei Bildungsseminare über die Oral History, die Interviewführung, die Interview- und Datensicherung sowie Archivierungstechniken mit Unterstützung von Professoren der Clark Universität in Michigan, bedeutenden Universitäten in der Türkei und der „Stiftung Denkmal“ in Berlin abgehalten. Unter akademischer Anleitung wurden analog zu einem Leitfaden der „Shoah-Foundation“ Fragebögen erarbeitet und ein Handbuch über die Geschichte und Kultur Dersims für die Interviewer fertiggestellt.
Zur Aufzeichnung wurden verschiedene Materialen besorgt wie Kameras, Tonbandgeräte und Fotoapparate.
Die nach dem Shoah-Stiftungsmuster erstellten Fragebögen zur Geschichte Dersims der Jahre 1937-38 wurden samt Einverständnisserklärung bereitgestellt. In Dersim wurde ein Büro als Anlaufstelle für die Zeitzeugen und als Informationspunkt für alle Interessierten eröffnet.
Kampagnen, TV-Programme und über 40 Informationsabende fanden inzwischen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und in der Türkei statt, um die Dersimer auf die Dringlichkeit des Projektes aufmerksam zu machen und soweit wie möglich inhaltliche und finanzielle Unterstützung von ihnen zu bekommen. Das Projekt wurde und wird komplett von Spenden der Dersimer getragen.

Einige Informationen zum Projekt.
Als wir 2009 angefingen, hatten wir uns zum Ziel gesetzt, 150 Zeitzeugen zu erreichen. Nach 73 Jahren suchten wir nach ihnen. Da das Durchschnittsalter in der Türkei bei Männern bei 71 und bei Frauen bei 76 Jahren liegt, hatten wir große Sorgen, den Wettlauf mit der Zeit zu verlieren. Aber schon nach kurzer Zeit bekamen wir zahlreiche Adressen von Zeitzeugen von überall her, und immer neue Hinweise und Daten trafen bei uns ein. Längst hatten wir die Zahl von 150 erreicht, aber wir konnten nicht aufhören, immer neue Interviews wurden und werden gemacht, und immer wieder bekommen wir wieder neue Namen. Bis jetzt haben wir 350 Zeitzeugen interviewt, unter ihnen auch zwei Soldaten, die damals ihren Militärdienst in Dersim geleistet haben, und einige der verschollenen Töchter Dersims. Leider haben wir nicht alle rechtzeitig erreichen können: Einige sind gestorben, während wir uns vorbereiteten.

• Der älteste Zeitzeuge wurde 1894 geboren, die meisten der Zeitzeuge waren beim Völkermord zwischen 6 und 12 Jahren alt.
63% sind Männer, 37% sind Frauen
• In 8 Ländern und über 40 Städten sind Interviews gemacht worden, davon 22 in Deutschland.
• Die Zeitzeugen gehören 43 verschiedenen Stämmen an, darunter auch 9 Ocaks (Heilige Stämme)
• Die Interviews wurden in verschiedenen Sprachen geführt: 77% in Kirmancki/ Zazaki, 5% in Türkisch, 18% in Kirdaski (Kurdisch)
• Die Durchschnittslänge der Interviews beträgt 88 Minuten.
• Während des Völkermords wurden 19% verwundet, 60% haben ihre Familienangehörigen verloren, 88% haben den Massenmord selbst
erlebt, 62% konnten sich im Wald oder in Höhlen verstecken, 36% wurden nach dem Massaker nach Westen verbannt, 2% sind unter
Leichen am Leben geblieben.
• Für die Sicherung der Dateien wurden die Interviews dreimal bei drei Personen in drei verschiedenen Ländern gespeichert.
• Das Komitee ist dabei, einen Projektbericht fertigzustellen und diesen als Buch zu veröffentlichen.

Ziel: In Deutschland die Interviews für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen und in Dersim ein Archiv- und Dokumentationszentrum für Dersim 1937-38 zu errichten.

Das anfängliche Ziel des Projekte war, so viele Zeitzeugen wie möglich ausfindig zu machen und deren Aussagen und Erinnerungen anhand moderner audio-visueller Medien im Einklang mit akademischen Standards und Richtlinien zu erfassen. Das langfristige Ziel besteht nun darin, die Informationen zu transkribieren und danach auf Türkisch, Deutsch und Englisch zu übersetzen, um die Daten dann zusammen mit anderen Informationen, Dokumenten, Fotos und Filmen in einem Archiv- und Dokumentationszentrum der Öffentlichkeit, der Forschung und anderen Institutionen zur Verarbeitung und Aufarbeitung zur Verfügung zu stellen.
Mit der Aufarbeitung des Themas hoffen wir zum einen, eine ausgewogenere Geschichtsschreibung als Alternative zur offiziellen Geschichtsschreibung zu bieten, und zum anderen, eine wahrhaftige Aufarbeitung des Traumas für die Dersimer zu ermöglichen. Im weiteren glauben wir, dass das Wissen um die tolerante und friedliebende Dersim-Kultur, die eine wirklich demokratische, gleichberechtigte und multikulturelle Gesellschaft darstellte, ein Gewinn für die deutsche Öffentlichkeit sein wird.
Wir benötigen tatkräftige Unterstützung, um unserer Aufgabe gerecht zu werden. Die Wahrheit, die so lange verschüttet war, drängt ans Licht, und unsere letzten Überlebenden und ihre Nachfahren haben ein Recht auf ihre Geschichte.
Aber auch für einen gesellschaftlichen Frieden ist unsere Arbeit sehr wichtig. Wie oft führen Unwissen und Missverständnisse zu Spannungen, sei es in der Türkei oder auch hier in Deutschland. Wenn Schüler in deutschen Schulen keine Möglichkeit haben, sich umfassend und ausgewogen über die türkische Geschichte zu informieren, wird es immer wieder zu Streitigkeiten kommen, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind. Man stelle sich vor, es gäbe keine Literatur oder andere Aufzeichnungen zum Völkermord an den Juden in Deutschland – wie sollten deutsche Schüler die Geschichte ihres Landes begreifen, mit ihr und mit Juden in Deutschland gemeinsam in Frieden leben?
Und so bitte ich Sie: Helfen Sie uns bei unserer Arbeit, damit wir sie nachhaltig zur allgemeinen Verwendung bereitstellen können: in Museen, Schulen und Universitäten, für Historiker, Lehrer und Kulturinteressierte, für Bürger, Politiker und Menschen in der Integrationsarbeit, für die Nachfahren der Opfer und für die Nachkommen der Täter, für alle Menschen, die die Wahrheit erfahren und in Frieden zusammenleben wollen. Denn nur die Wahrheit kann uns frei machen!

Düsseldorf, 13.05.2013
Projektleiter des Dersim 1937-38 Oral History Projekts
Yaşar Kaya

Rede von Leyla Gündüzkanat

Rede von Leyla Gündüzkanat
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Kittel,
sehr geehrter Herr Dr. Kossert,
sehr geehrte Damen und Herren

liebe Gäste,

im Namen der Föderation der Dersim Gemeinden begrüße ich Sie herzlich. Wir bedanken uns sehr bei der Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung für diese Veranstaltung, um einen fast vergessenen Völkermord ans Tageslicht zu bringen. Ebenso möchte ich mich für die Unterstützung von Frau Hirsch und Herrn Zimmermann bedanken.

Wir alevitischen Kirmanc/Zaza und alevitischen Kirdas/Here Were sprechenden lebten vor hundert Jahren, noch vor 1915, in der Region Dersim viel Sprachig und friedlich mit Armeniern zusammen. Kurz nach den Übergriffen auf unsere armenischen Nachbarn wurden auch wir Opfer eines unbegreiflichen Pogroms. Noch vor dem Beschluss des türkischen Kabinetts vom 04.05.1937 hatte das türkische Militär mit Bombardierungen von Dersim begonnen. Doch diesen Tag, den 04.05., haben wir als unseren Gedenktag an die ermordeten Menschen und an das Massaker von Dersim festgelegt.

Alle Rechtfertigungsversuche für die begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit scheitern, und so ist auch der Völkermord an den Dersimern nicht zu rechtfertigen. Wir passten mit unserem İtıqatê Dêsim Glauben nicht zum sunnitischen Türk-Menschenbild.

Ein verantwortungsbewusster Staat sorgt für die Aufarbeitung eines von ihm begangenen Unrechtes, um weitere Verbrechen zu vermeiden. Hier dient Deutschland als ein sehr gutes Beispiel, doch leider ist die Türkei noch nicht so weit. Sogar die Fakten über das Ausmaß des Dersim-Völkermord sind durch politische Kalküls vernebelt, und so hat es in den letzten 75 Jahren keine nennenswerten, unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchungen gegeben.

Immerhin: 2011 hat sich der türkische Ministerpräsident Erdogan offiziell entschuldigt. Für die Aufarbeitung war diese Entschuldigung ein sehr wichtiger Schritt, leider folgten bis jetzt keine Taten. Noch immer werden wichtige Dokumente unter Verschluss gehalten, z.B. ist auch die Liste der verschollenen Mädchen immer noch nicht veröffentlicht. Das – als ein Beispiel – wäre ein konkreter Schritt, um vielen, noch lebenden Menschen bei der Suche nach ihren Verwandten zu helfen. Auch die offiziellen Zahlen mit 13.806 getöteten Menschen stimmen nicht, vermutlich waren es um die 50.000. Die Repressionen in der Region Dersim endeten auch in den letzten vierzig Jahren nicht. Die Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und der PKK fügten Dersim zudem einen noch nicht genau abzuschätzenden Schaden zu mit vielen Tausend Toten, mehreren Tausend Inhaftierungen mit Folgeschäden und mehreren Hundert zerstörten Dörfern. Und naturgemäß der Vertreibung. So sind wir Dersimer überall auf der Welt, nicht aber da, wo unsere Wurzeln sind.

Um die 200.000 Dersimer leben in Deutschland, viele von ihnen sind gut integrierte deutsche Staatsbürger. Wir – in der zweiten und dritten Generation oft auch gut ausgebildet, oft auch Akademikerinnen und Akademiker – wir sind die Kinder der vor 45 Jahren hier in Deutschland angeworbenen, zutiefst traumatisierten und im Bezug auf ihre Identität verunsicherten Hilfsarbeiter.

Über Jahrzehnte hinweg haben unsere Eltern schweigen müssen, geredet wurde nur hinter vorgehaltener Hand. Die Angst ging mit ihnen in die Welt, so wurde auch hier in Deutschland lange nicht gesprochen. Sie hatten Eltern und Verwandte verloren, wurden als Kinder Zeuge von Massenexekutionen, bei denen sie teilweise unter Leichen begraben wurden und nur so überleben konnten, oder sind mit den unbegreiflichsten, grauenhaften Geschichten über dieses Massaker aufgewachsen.Heute verstehe ich die unermessliche Trauer und die Sprachlosigkeit meiner Mutter und meines Vaters besser. Mutters Urgroßvater wurde Anfang 1900 hingerichtet, weil er ein alevitischer Dede war. 1925 wurde ihr Großonkel, einer der ersten Abgeordneten im türkischen Parlament, hingerichtet. Dann schließlich, während der Massaker von 1937 und ’38, verlor sie nicht nur einzelne Verwandte: – ganze Familien aus ihrer Verwandtschaft wurden ausgelöscht oder deportiert.

Auch die Schwierigkeit meines Vaters, über seinen Großvater zu sprechen, der mit 14 Gefolgsleuten erschossen wurde, verstehe ich heute. Ich verstehe den Schmerz hinter dem Schweigen.

Insbesondere auf Grund meiner akademischen Ausbildung hier in Deutschland weiß ich, wie wichtig es ist, sich bei der Aufarbeitung den Erinnerungen zu stellen und das Schweigen zu brechen.

Mit dieser Veranstaltung haben wir die Möglichkeit erhalten, den Völkermord an uns Dersimern öffentlich zur Sprache zu bringen. Als mehrheitlich gut integrierte deutsche Staatsbürger brauchen wir aber die Unterstützung durch unsere deutsche Regierung – gerade auch in Bezug auf die historische Aufarbeitung und die Entwicklung einer angemessenen Gedenkkultur mit Gedenktagen und Gedenkstätten.

Mit unserem Dachverband – dem “Föderation der Dersimgemeinden”- haben wir bereits das Schweigen gebrochen und bei der Aufarbeitung unserer Geschichte einen sehr konkreten, unschätzbaren Dienst geleistet: mit fast 350 Zeitzeugeninterviews und mit fast 1000 Stunden Rohmaterial haben wir das bisher Verschwiegene ans Tageslicht geholt und so ein politisches Bewusstsein über den Völkermord entwickelt und geschärft. Diese Interviews dienen einerseits unserem kollektiven und individuellen Gedächtnis, andererseits als eine wichtige Quelle für die wissenschaftliche Forschung. Um sie der Öffentlichkeit und der Forschung zur Verfügung stellen zu können, sind wir jedoch auf Hilfe angewiesen, um sie archivieren und übersetzen zu können. Leider reichen unsere eigenen fachlichen und finanziellen Ressourcen nicht mehr, um die Masse der Zeitzeugeninterviews abschließend bearbeiten zu können.

Wir erhoffen daher vom deutschen Staat und seinen Organen zweierlei:

einerseits eine finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der erwähnten Erschließung und Veröffentlichung der Zeitzeugenberichte.

Zum anderen erbitten wir Orte des Gedenkens, ähnlich derer von den verfolgten und ermordeten Juden, Sinti, Roma und anderer. Nicht das der deutsche Staat eine Verantwortung gegenüber den Massakern in Dersim trüge. Bei weitem nicht. Als Bürger dieses Landes aber wäre es Beispielgebend (auch für viele andere Staaten), wenn auch wir Dersimer hier in Deutschland sichtbare Orte hätten, an denen wir unserer Geschichte gedenken und unsere Kultur als Deutsche mit alevitischen Wurzeln pflegen könnten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Leyla Gündüzkanat (29.04.2013)

Heilige Erde unter Druck

Im Jahr 1938 sind sehr schlimme Dinge geschehen. Und wir, die Überbleibsel von Zehntau­senden Ermordeter und Eingekerkerter, wurden in die westlichen Provinzen deportiert. Ich bin das Kind eines Deportierten. Ende 1947 sind wir infolge einer Amnestie zu unserer heiligen Erde, nach Dersim, zurückgekehrt. Unsere Bauern besuchten in freudigem Wiederse­hen die heiligen Orte, sie verteilten Krapfen und schlachteten Opfertiere.
Aber die ausgeübte Unterdrückung, die Greueltaten und Vertreibung fanden kein Ende.
Sie haben unsere heiligen Orte in einen solchen Zustand versetzt, dass es unmöglich ist, dort zu leben, weswegen heute etliche hunderttausende Dersimer in der Fremde leben. Bei der Deportation von 1938 wurden wir, die Dersimer, auf die Provinzen des Westens ab Kayseri verteilt, deren Sprache, Sitten und Gebräuche wir nicht kannten. Wir wurden über die ganze Welt zerstreut; deswegen sollten wenigstens unsere Erinnerungen, unsere Bilder, unsere Erlebnisse gesammelt werden. Ich gratuliere unseren jungen Leuten herzlich und küsse ihre reine Stir­nen, weil sie versuchen, unsere Erlebnisse, unsere Lieder, unsere Klagen zu sammeln.

Ich unterstütze die Arbeit des Oral History-Projektes Dersim 1937-38 von ganzem Herzen. Ich beziehe eine Rente. Ich erkläre hiermit, dass ich einen Teil davon für dieses sinnvolle Pro­jekt spenden werde.

Hüseyin Kaya
Ehrenvorsitzender der FDG (Föderation der Dersim Gemeinden in Europa), Zeuge von ’38

Gespräch der FDG-Delegation mit dem stell. türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç am 2. Dez. 2011

Gespräch der FDG-Delegation mit dem stell. türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç am 2. Dez. 2011
Eine Delegation unter der Leitung des Vorsitzenden der Europa-Föderation der Dersim-Vereine (FDG) Yaşar Kaya hat den stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç besucht.
Die Delegation, der auch der Urenkel von Seyid Rıza, Rüstem Polat, angehörte, dankte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan für seine Erklärung: „Wo sich der Staat im Zusammenhang mit den Vorfällen von Dersim entschuldigen muss, da würde ich mich gern dafür entschuldigen und so entschuldige ich mich jetzt ausdrücklich dafür.“ Ferner dankte die Delegation auch Arınç für seine Worte, es sei möglich, „einen Ausschuss mit der Zielsetzung der Aufarbeitung der Geschichte zu gründen“.

Yaşar Kaya sagte: „Wir sind unserem Herrn Ministerpräsidenten zu Dank verpflichtet. Was die Machenschaften in Dersim im Jahr 1937 angeht, so hat er die Einwohner von Dersim durch die Äußerung seines Bedauerns getröstet. Durch diese Erklärung ist in der Türkei neben die bisherige offizielle Geschichtsdarstellung nun das Geschichtsregister der tatsächlichen Ereignisse gestellt worden.“ Die Delegation forderte Unterstützung für die Einrichtung eines Ausschusses im Parlament, um die Vorfälle in Dersim im Jahr 1937 zu untersuchen.

Der stellvertretende Ministerpräsident Arınç empfing den Vorsitzenden der Europa-Föderation der Dersim-Vereine Yaşar Kaya, den Generalsekretär der Europa Dersim-Vereine Kemal Karabulut, den Urenkel von Seyid Rıza, Rüstem Polat und den Zweiten Vorsitzenden der Europa-Föderation der Dersim-Vereine İbrahim Aktaş.

-“Ein Geschichtsregister der wahrheitsgemäßen Darstellung der historischen Ereignisse ist eröffnet worden“-

Der Leiter der Delegation Yaşar Kaya begann seine Erklärungen bei dem Gespräch, das im Amtszimmer von Arınç im Amt des Ministerpräsidenten stattfand, mit Genesungswünschen an Ministerpräsident Erdoğan, der sich einer Operation unterziehen musste. Kaya sagte weiterhin: „Wir sind ihm zu Dank verpflichtet. Was die Machenschaften in Dersim im Jahr 1937 angeht, so hat der Herr Ministerpräsident die Einwohner von Dersim durch die Äußerung seines Bedauerns getröstet. Diese Äußerung ist unserer Meinung nach eine sehr wichtige Erklärung. Durch diese Erklärung ist in der Türkei neben die bisherige offizielle Geschichtsdarstellung nun das Geschichtsregister der tatsächlichen Ereignisse gestellt worden, und die erste Seite dieses Registers der historisch korrekten Geschichtsdarstellung beginnt mit Dersim. Unser Ministerpräsident hat diesbezüglich einen sehr wichtigen Schritt unternommen. Wie die folgenden Seiten dieses Registers nun wiederum gefüllt werden sollen, was man zukünftig alles in dieses Register aufnehmen will, obliegt als Last gänzlich der türkischen Gesellschaft und ist von ihr zu schultern. Es geht darum, wie wir uns der Geschichte stellen wollen.“

-„Wir messen der Erklärung unseres Ministerpräsidenten eine sehr hohe Bedeutung bei.“-

Der Vorsitzende der Europa-Föderation der Dersim-Vereine Yaşar Kaya sagte: „Nach den Erklärungen unseres Ministerpräsidenten ist die Welt nicht untergegangen. Ganz im Gegenteil – sie haben zu einer Entspannung der Lage geführt“. Er brachte ferner zum Ausdruck, dass sich bei den Bewohnern von Dersim nach den Erklärungen von Erdoğan die Ansicht herausgebildet habe: „ Ja, unser Schmerz wird verstanden; ja, unsere Wunde wird wahrgenommen.“

Yaşar Kaya äußerte sich dazu ferner folgendermaßen: „Die Wunde von Dersim hatte sich nie geschlossen. Von außen erschien es so, als ob sie sich geschlossen hätte, aber nach innen blutete sie weiter. Die Türkei hat heute nunmehr in Hinsicht darauf, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen, einen sehr großen Schritt nach vorne getan. Wenn man sich mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert und sie sich ins Gedächtnis zurückruft, kann der Prozess der Versöhnung eingeleitet werden. Ohne diese geschichtliche Aufarbeitung kann leider auch keine Versöhnung erfolgen. In dieser Hinsicht messen wir der Erklärung unseres Ministerpräsidenten eine sehr hohe Bedeutung bei.“

  • „Die Gründung eines Ausschusses ist sehr wichtig“-
    Yaşar Kaya , der dem stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten Bülent Arınç für seine Erklärung dankte, bezüglich der Vorfälle in Dersim könne „ein Ausschuss mit dem Auftrag der Aufarbeitung der Geschichte“ gegründet werden, erklärte in diesem Zusammenhang: „Auch Ihrer Erklärung messen wir einen hohen Stellenwert bei. Auch Ihnen sind wir zu Dank verpflichtet. Die Einsetzung eines solchen Ausschusses ist sehr wichtig. Vor dem Gespräch mit Ihnen hatten wir bereits eine Unterredung mit Kemal Kılıçdaroğlu und haben ihm unsere Forderungen übermittelt. Wir kommen gerade von diesem Treffen.

Es muss dafür gesorgt weden, diese Angelegenheit aus dem tagespolitischen Streit und der Polemik zwischen den Parteien herauszuhalten. Nach unserer Überzeugung wäre es besser, sie als Menschenrechtsproblematik und gesellschaftliche Wunde zu behandeln und untereinander das Gespräch darüber zu suchen, wie der damit einhergehende Schmerz einer Linderung zugeführt werden kann. Da es gegenwärtig immer noch Menschen gibt, die mit den ihnen zugefügten Schusswunden und Bajonettverletzungen von damals leben, wäre es der Sache angemessener, sich dabei einer Sprache zu bedienen, die den Erinnerungen dieser Menschen, ihrem Schmerz und ihrem Andenken Respekt zollt. Es wäre indessen nicht richtig, so zu tun, als gäbe es diese Wunde gar nicht und zu versuchen, sie einfach zu überdecken.Vielmehr muss man sich ihrer Existenz stellen; hinsichtlich der Geschichte der Türkei könnte dies zu einer Chance für Demokratie, ein Zusammenleben in Frieden und Aussöhnung werden.”

-“Die Gräber sollen geöffnet werden, die zwangsadoptierten Kinder sollen aufgefunden werden” –

Yaşar Kaya, der zum Ausdruck brachte, dass er dazu bereit sei, die Arbeit des Ausschusses zu unterstützen, sagte ferner:
“Die Bevölkerung von Dersim hat sich zu keiner Zeit von Rachsucht und Groll leiten lassen. Wir haben mit über 250 Personen, die Zeuge der Vorfälle von 1937 waren, diesbezüglich Gespräche geführt. Mit Ausnahme einer Person hat niemand ein zornige Wort gebraucht. Niemand hat Worte des Abscheus benutzt. Die Befragten haben allerhöchstens gesagt: “Wir haben unsere Sache vor Gottes Propheten im Himmel gebracht, damit er uns in unserer Not zu Hilfe komme.Wir haben unsere Sache dem höchsten Gericht, der Gerichtsbarkeit Gottes, anheim gestellt.” Diese Haltung rührt aus unseren Überzeugungen, aus dem, was wir glauben. Wir denken, dass es hinsichtlich des Aspektes der Aufarbeitung der Geschichte seitens der Türkei sehr wichtig sein wird, sich klarzumachen, wie groß der Schmerz dieser friedliebenden Volksgruppe ist!”

Kaya unterteilte die Forderungen der Bevölkerung von Dersim nach “Öffnung der Gräber, Öffnung der Archive, Auffindung der zwangsadoptierten Kinder” in kurzfristige, mittelfristige und langfristige Forderungen und führte aus: “Unsere Wünsche bestehen darin, dass als allererstes die CHP und die AK-Partei zusammenkommen und eine Absichtserklärung hinsichtlich des zu gründenden Ausschusses abgeben. Dies ist nicht Angelegenheit einer Partei allein… Und so fordern wir, dass dies als parteiübergreifendes Problem behandelt wird. Wenn es etwas gibt, das wir diesbezüglich tun können, so sind wir bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten. Wenn in diesem Ausschuss auch die Bevölkerungsgruppe von Dersim repräsentiert wäre, so wäre dies nur recht und billig. Denn es wäre nur angemessen, wenn auch sie als Geschädigte dort vertreten wären.”

-“Die Erklärung unseres Ministerpräsidenten hat mich bewegt”-

Auch der Nachkomme von Seyid Rıza Rüstem Polat übermittelte zunächst seine Genesungswünsche an Ministerpräsident Erdoğan und sagte dann: „Ich habe mich über die Erklärung unseres Ministerpräsidenten sehr gefreut und war bewegt. Meine Bitte besteht darin, dass es über das Parlament zu einer Lösung kommt. Man soll endlich aufdecken, wo die Gräber sind. Schon seit Jahren ist dies unser sehnlichster Wunsch. Man soll uns sagen, wo die Gräber sind, damit wir dort beten und unsere Opfer darbringen können. Gegebenenfalls wollen wir dort ein Denkmal errichten. Nur das wollen wir; wir haben keinerlei Hintergedanken.” Auf die Frage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç hin erklärte Rüstem Polat, er sei sowohl mütterlicher als auch väterlicherseits der Urenkel von Seyid Rıza, weil sein Vater und seine Mutter als Cousin und Cousine väterlicherseits verwandt seien: „Meine Mutter und mein Vater sind die Enkel von Seyid Rıza . Ich bin also der Urenkel. Mein Urgroßvater Seyid Rıza hatte eine Tochter. Meine Tante väterlicherseits ist noch am Leben. Unsere Dörfer sind verfallen. Dort ist niemand mehr. Ich lebe schon seit 16 Jahren in Deutschland. Aber ich sehne mich nach unseren Dörfern.“

-“Die meisten Exilierten wurden nach Eskişehir, Bursa und Aydın verbracht“-

Auf die Frage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç bezüglich der exilierten Bewohner von Dersim: „In welche Orte der Türkei wurden die Exilierten hauptsächlich verbracht?“ entgegnete der Vorsitzende der Europa-Föderation der Dersim-Vereine Yaşar Kaya:
„Sie wurden in die Provinzen westlich von Kayseri geschickt. Jedem Dorf wurde lediglich eine Familie zugewiesen. Der betreffenden Familie war es untersagt, in ein anderes Dorf zu ziehen. Sehr oft siedelte man die Menschen auch in Städten wie Eskişehir, Bursa und Aydın an.“

  • “Sie berichtete von der Ermordung schwangerer Frauen“-

Der Generalsekretär der Föderation der Europa Dersim-Vereine Kemal Karabulut wiederum gab folgenden grauenhaften Vorfall wieder, von dem ihm seine Mutter vor 10 Jahren berichtet hatte:
“In unserem Dorf gab es unter den Menschen, die man auf dem Dorfplatz zusammengetrieben hatte, um sie niederzumetzeln, auch zwei hochschwangere Frauen. Einer der Dorfältesten, ein würdiger alter Mann, flehte den Offizier an: “Bitte, gib uns doch wenigstens etwas Zeit, damit diese Frauen ihre Kinder gebären können! Ich gebe Dir mein Ehrenwort, dass ich sie danach zu Euch bringe und euch übergeben werde. Daraufhin gab es kurz Unruhe unter den Soldaten, aber danach kamen sie zu einem felsigen Abhang, den es immer noch in unserem Dorf gibt, und der Offizier erstach auch diese beiden schwangeren Frauen und warf sie den Felsabhang hinunter.”

Karabulut sagte:”Herr Minister, wir sind mit diesen grauenhaft schmerzlichen Vorfällen aufgewachsen, und darüber hinaus wurde auch noch Geschichtsverzerrung betrieben! Man versucht, diesen wehrlosen Menschen einzureden, die Greuel seien von “Banditen” begangen worden. Wir fordern, dass diese schmutzigen Praxis korrigiert wird. Deshalb bitten wir Sie, uns bezüglich der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zur Wahrheitsfindung zu unterstützen.”

-“Dersim-Kalender in Zazaca“-

Die Delegation überreichte dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Arınç als Geschenk einen im Zazaca-Dialekt verfassten Kalender, in dem spezielle für Dersim typische religiöse Feiertage und Kulturtage abgebildet sind.

Arınç unterhielt sich mit dem Urenkel von Seyid Rıza, Rüstem Polat, über eine Fotografie, die seinen Urgroßvater mit Filzhut zeigt und sagte, indem er die Fotografie aus der Zeitschrift in seiner Hand betrachtete: „Das muss ein Foto sein, das unmittelbar vor seiner Hinrichtung gemacht wurde… Gott möge sich seiner Seele erbarmen! Auf dem Foto wirkt er sehr mühe und erschöpft.“

-“Und die Knochen liegen unter freiem Himmel im Massengrab…“-

Yaşar Kaya, der dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Arınç ein Dossier überreichte, das aus Fotografien des Archivs seines Vereins besteht, sagte: „Wir haben einen Zeugen gefunden, der erklärt hat, dass jede einzelne der Personen auf der Fotografie, die Sie in der Hand halten, umgebracht wurde, nachdem dieses Foto gemacht wurde.“

Kaya sagte ferner: „Aus den Dörfern rund um Erzincan wurden 100 Personen zusammengetrieben und nach einem Fußmarsch von 3 Tagen auf dem Gipfel eines Berges umgebracht. Diese Knochen liegen dort immer noch unter freiem Himmel. Auch heute noch gibt es Verwandte dieser Menschen unter uns. Wir haben uns an die Staatsanwaltschaft gewandt mit der Forderung, diese Knochen einem DNA-Test zu unterziehen… Aber die Staatsanwaltschaft hat dies leider abgelehnt.. Die Knochen liegen immer noch unter freiem Himmel.“

-“Wir haben mit 250 Zeugen gesprochen“-

Yaşar Kaya, der berichtete, dass sie an einem Projekt arbeiteten, dem sie den Namen „ Die Kinder von Dersim 1937-1938“ gegeben hätten, sagte außerdem: „Wir betreiben ein Projekt mit dem Namen: “Was sich in Dersim zugetragen hat“. Die Durchführung des Projektes entspricht internationalen Standards. Wir haben mit 250 noch lebenden Zeugen gesprochen. Darunter sind zwei, die als Soldaten in Dersim waren. Fünf dieser Zeugen wurden aus Dersim verschleppt und anschließend als Kinder zwangsadoptiert. Bei den restlichen Zeugen handelt es sich um Personen, die die Vorfälle in den Jahren 1937-1938 als Kinder miterlebt haben. Wir möchten Ihnen eine CD eines 10 minütigen Mitschnitts eines Gesprächs übergeben, das wir mit einem der oben erwähnten Soldaten geführt haben. Dieser Soldat lebt gegenwärtig in Bodrum bei seinen Kindern. Er ist über 100 Jahre alt und berichtet völlig ungeschönt über die Greuel von Dersim in all ihrer nackten Brutalität .“

AA (Ajans Anatolien)

Andankstag des Terteles 4. Mai

Nun ist die Zeit, aus dem Dunkel der Diskriminierung hervorzutreten,
um den Weg der Gerechtigkeit zwischen den Rassen zu beschreiten.
(Martin Luther King)

An die Öffentlichkeit
Schlussdeklaration der Versammlung vom 6. März 2010
zur Tertele* (dem Völkermord) in Dersim in den Jahren 1937 und 1938

  1. Mai – Gedenktag der Tertele in Dersim

Am 6. März 2010 fand in Köln eine Versammlung statt, an der zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller, Akademiker und Künstler aus der Türkei und Deutschland, sowie Vertreter von zivilgesellschaftlichen Institutionen aus Dersim teilnahmen.

Auf der Basis der geführten Diskussionen wurden unten stehende Beschlüsse verabschiedet:

Die Tertele bzw. der Genozid in Dersim von 1937 bis 1939 ist kein vereinzeltes Massaker. Vielmehr richteten sich die Massaker im Zeitraum von 1937 bis 1938, die den Höhepunkt einer über Jahrzehnte geführten politischen Diffamierungskampagne darstellten, gegen eine Gemeinschaft mit einer eigenen politischen, sozialen und kulturellen Identität; mit dem Ziel, deren Lebensart zu beseitigen, die dem osmanisch-türkischen Staat ein Dorn im Auge war.

Sowohl die Lebensart als auch die politisch-soziale und kulturelle Identität der Menschen aus Dersim standen im Widerspruch zur osmanisch-türkischen Staatstradition, weshalb sie sich systematischer Unterdrückung, Assimilation und systematischem Terror ausgesetzt sahen.

Die Tertele von 1937 bis 1938 war ein Wendepunkt, an dem die – gegen das Volk aus Dersim gerichtete – Unterdrückungs- und Assimilationspolitik des türkisch-osmanischen Staates in eine Politik der Ausrottung mündete. Aus diesem Grund erklärt die Versammlung den 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim. Die Versammlung verneigt sich vor dem Andenken der im Rahmen der Tertele ermordeten Menschen und verurteilt die Verantwortlichen des Massakers auf das Schärfste; aber auch diejenigen, die sich mitschuldig machen, indem sie darüber schweigen oder die Spuren verwischen.

Die Versammlung fordert die türkische Regierung dazu auf, den 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim zu erklären. Sie erwartet von der derzeitigen Regierung, sowie allen zukünftigen Regierungen, eine offizielle Erklärung, in der ihr Bedauern und das Gedenken der Opfer zum Ausdruck kommt.

Die Teilnehmer der Versammlung glauben, dass die Besinnung auf die eigene Geschichte und dem Gedenken der Opfer, vergleichbaren Massakern in der Türkei entgegenwirkt. Gleichfalls sind die Teilnehmer der Versammlung davon überzeugt, dass ein solches Gedenken die demokratische Entwicklung einer friedlichen Gesellschaft fördert, welche die Menschenrechte respektiert.

Hintergründe für die Wahl des 4. Mai zum Gedenktag der Tertele in Dersim von 1938:

Der Beschluss zur Ausrottung des Volkes aus Dersim, mit dem ein Exempel statuiert werden sollte, wurde am 4. Mai 1937 auf einer Sitzung des türkischen Ministerrats gefasst. Noch am selben Tag wurde das Gebiet von Dersim breitflächig bombardiert, wobei Hunderte Zivilisten – Frauen, Kinder und alte Männer – getötet wurden. Zehntausende wurden im Rahmen der annähernd zweijährigen Militäroperation ermordet. Weitere Zehntausende wurden in die Verbannung geschickt; Familien wurden zerrissen, die Menschen voneinander getrennt auf andere Dörfer, Bezirke und Provinzen verteilt. Im Rahmen der Tertele wurden die Führer Dersims ohne rechtliche Grundlage hingerichtet. Noch heute suchen ihre Nachfahren die Gräber ihrer Vorväter. Tausende Kinder wurden 1938 zur Adoption freigegeben oder in Waisenheime überstellt. Noch immer finden sich in den Zeitungen Suchanzeigen, in denen die Menschen nach ihren vermissten Verwandten forschen.

1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer der Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und nahen Verwandten kennenzulernen. Viel sind ohne ihre Brüder, Onkel und Tanten aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahen Verwandten aufwachsen zu müssen. Diese Gefühle lassen sich in ihrer Kausalität letztendlich nur von Gemeinschaften nachvollziehen, die einem ähnlichen Völkermord ausgesetzt waren.

Die Teilnehmer der Versammlung vom 6. März 2010, die einen breiten Teil der Gesellschaft Dersims vertreten, haben festgestellt, dass der Beschluss des türkischen Ministerrats vom 4. Mai 2010 der Auftakt für die Phase der endgültigen Vernichtung und Vertreibung war, weshalb dieses Datum historische Tragweite hat. Der Beschluss war eindeutig: Ein Volk sollte geplant und systematisch vernichtet werden, das seine eigenen Sprachen spricht, seine eigene Religion ausübt und eine eigene Kultur besitzt.

Unsere Epoche gilt als Zeitalter der Bewältigung der eigenen Geschichte und der Abbitte für begangene Fehler. Zivilisierte Länder sehen in anderen Sprachen, Religionen und Kulturen einen Reichtum, den es zu schützen gilt. Sie stellen sich ihrer historischen Realität und entschuldigen sich bei den Opfern für das begangene Unrecht.

Deutschland, welches sich immer noch dem Völkermord Hitlers an dem jüdischen Volk stellt; Italien, das für seine koloniale Vergangenheit von 1911 bis 1947 Libyen um Verzeihung bat; Spanien, das sich seiner Vergangenheit der mittelalterlichen Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel annimmt; Japan, das immer noch seine imperiale Politik vor dem II. Weltkrieg gegenüber den anderen asiatischen Völkern aufarbeitet; Australien, welches sich bei seinen Ureinwohnern für das an den Aborigines begangene Unrecht entschuldigte; oder Kanada und Amerika, die Ihre Ureinwohner für das an ihnen begangene Unrecht respektive für ihre Assimilationspolitik um Verzeihung baten, sind nur einige dieser Länder. Ganz zu schweigen von den baltischen Staaten, Rumänien und der Schweiz, die sich ihrer direkten oder indirekten Beihilfe an der Schoah annehmen, Historikerkommissionen einrichten und Abbitte leisten.

Die Bewältigung der eigenen Geschichte hat diese Staaten und ihre Gesellschaften nicht gedemütigt; im Gegenteil, sie trug ihnen großen Respekt ein. In diesen Ländern brach infolgedessen kein Sturm los; vielmehr wurden große Fortschritte auf dem Weg der gesellschaftlichen Aussöhnung respektive große Fortschritte gegen das Vergessen der vergangenen Tragödien erzielt. Dies führte zu neuen Möglichkeiten und eröffnete neue Wege. Nur wenn die Türkei sich der eigenen Vergangenheit stellt, wird sie ihren Platz in dieser würdigen Gemeinschaft finden können. Der Weg zum Frieden und zur Demokratie führt in der Türkei über die Bewältigung des vergangenen Leids.

Die Teilnehmer der Versammlung erwarten somit für die Vorkommnisse in den Jahren 1937 und 1938 eine offizielle Entschuldigung. Dies dürfte gegenüber den Opfern des Dersimer Massakers von 1938 und dem Leid ihrer Nachfahren nicht zu viel verlangt sein. Die Teilnehmer der Versammlung erwarten, dass den hingerichteten Führern Dersims, deren Menschrechte mit Füßen getreten wurden, ihre Würde wiedergegeben wird; im festen Glauben daran, dass dies die Voraussetzung für gesellschaftlichen Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit ist.

Trotz alledem hat das Volk von Dersim niemals auf Blutrache gesonnen. Dies würde der Nächstenliebe widersprechen, welche die Traditionen und die Kultur dieses Volkes lehren.

Auch diese Zeilen sind frei von jeglichem Gefühl der Rache. Sie sind vielmehr ein Aufruf zur Brüderlichkeit und zum gesellschaftlichen Frieden. Die Versammlung fordert deshalb den türkischen Staat zur Änderung seiner Politik auf, die die eigenen Bürger als „Bedrohung“ wahrnimmt. Der türkische Staat muss sich dem begangenen Unrecht stellen, wenn gesellschaftliche Aussöhnung und Frieden erreicht werden sollen. Das zwischen 1937 und 1938 in Dersim begangene Unrecht muss aufgearbeitet werden.

Hierfür bedarf es einer Regierung, die sich den historischen Fakten annimmt. Die Menschen in der Türkei verlangen nach einer Regierung, die die Aufarbeitung der eigenen Geschichte zur Ehrensache macht. Sie haben genug von Regierungen, die das Volk belügen bzw. die nachfolgenden Generationen mit Lügen nähren. Die massenhafte Tötung von Menschen im Namen des „Antiterrorkampfes“ und die politische Unkultur der Verleumdung und Lüge passen nicht zu diesem Land.

Der 4. Mai soll deshalb der Tag sein, an dem die Menschen aus Dersim für die Toten der Tertele beten, sowie Kerzen zu ihrem Gedenken entzündet werden. Die begangenen Massaker müssen Teil des öffentlichen Gedächtnis werden. Die Menschen aus Dersim müssen uneingeschränkt ihre Sprache sprechen, Kultur pflegen und Religion ausüben können.

Die Teilnehmer der Versammlung richten deshalb an den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan den offenen Aufruf, die schriftlichen Beweise – die er vorgibt zu besitzen – für die Vorkommnisse in Dersim zu veröffentlichen, die er als Massaker bezeichnet. Die Teilnehmer der Versammlung wollen die Worte des türkischen Ministerpräsidenten als einen Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame Zukunft ansehen. Denn sollten diese Worte aufrichtig gemeint sein und nicht allein als taktisches Mittel der Alltagspolitik dienen, dann muss Herr Erdogan bei der Wiederherstellung des Rechts behilflich sein. Auch der türkische Ministerpräsident weiß, dass die Unterschlagung von Beweisen eines Verbrechens strafbar ist. Statt diese Beweise als Druckmittel gegen seine politischen Gegner einzusetzen, sollte Herr Erdogan sie für die Aufklärung dieses Verbrechens einsetzen. Die Geheimarchive müssen geöffnet und das allseits Bekannte Gewissheit werden, damit die Türkei ihre Vergangenheit aufarbeiten kann. Die vorhanden Dokumente dürfen nicht länger zurückgehalten werden. Andernfalls werden die Menschen der Türkei weiterhin in der historischen Dunkelheit ihres Landes verharren. Der Dunkelheit ist genug. Es bedarf des Aufbruchs für ein gemeinsamen Morgen.

Die Versammlung fordert deshalb die Herren Minister- und Staatspräsidenten der Türkei dazu auf, am 4. Mai zusammen mit den Menschen aus Dersim an den Gedenkfeierlichkeiten der Tertele teilzunehmen, um ihre Trauer zu teilen. Die Versammlung fordert die Herren Minister- und Staatspräsidenten der Türkei dazu auf, sich vor dem Andenken an die Zehntausenden ermordeten unschuldigen Frauen, Kindern und alten Menschen zu verbeugen, indem sie den 4. Mai zum offiziellen Gedenktag der Tertele erklären.

Die Teilnehmer der Versammlung rufen darüber hinaus alle Menschen, die für Demokratie, Menschenrechte, Nächstenliebe und Gerechtigkeit eintreten, an diesem bitteren Tag an ihrer Seite zu stehen.

Hochachtungsvoll

  1. März 2010
  • Tertele: Die noch lebenden Überlebenden der Massaker in Dersim bezeichnen die Vorkommnisse von 1938 mit ‚Tertele’, den Tag, an dem die Welt unterging. Das Wort ‚Tertele’ ist mittlerweile in der Gesellschaft Dersims Teil des generationsübergreifenden Gedächtnisses geworden, das mittlerweile im Zusammenhang mit dem Genozid in Dersim gebräuchlich ist.